Weshalb pädagogische Diagnose
Ob Bildungsstandards, Neue Mittelschule, Pädagog/innen-Bildung NEU, neue Reife- und Diplomprüfung oder schulische Tagesbetreuung: All diese Projekte, Maßnahmen und Vorgaben haben einen gemeinsamen Kern; sie weisen bei aller Unterschiedlichkeit von Begrifflichkeiten und Akzentsetzungen in eine gleiche Richtung, indem sie…
- Schüler/innen ganzheitlich, als eigenständige Persönlichkeiten wahrnehmen, deren Entwicklung als Individuen und Mitglieder der Gesellschaft das zentrale Anliegen von Schule darstellt
- die Unterschiedlichkeit von Schüler/inne/n in Lerngruppen als Normalfall und Chance zugleich betrachten
- die Lerngemeinschaft für die Entwicklung der/des Einzelnen für unverzichtbar halten
- das Lernen als immerwährende, eigenständige, höchst persönliche Aktivität jedes Menschen sehen, deren Erfolg und Nachhaltigkeit maßgeblich von „Ownership“ und gelingenden Beziehungen abhängen
- möglichst vielfältige Lernangebote für alle Schüler/innen fordern, im Sinne der Chancen- und Geschlechtergerechtigkeit in einer inklusiven Schule
- sich dabei zweckentsprechend und verantwortungsbewusst der Möglichkeiten neuer Informations und Kommunikationstechnologien bedienen
- aus all dem die Notwendigkeit einer Akzentverschiebung im Spektrum der Lehrer/innen-Rollen und der Lehrer/innen-Bildung ableiten, indem sie der aktiven, fördernden und fordernden „Lernbegleitung“ mehr Gewicht zuweisen als bisher (Wolf, 2012).
Empirische Studien belegen, dass eine hohe Diagnosekompetenz von Lehrkräften zu besseren Lernleistungen der Lernenden führt (Helmke, 2009, S. 132, zit. Heinrichs, 2015b.). Diese Aussage bestätigt der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie in seiner Studie „Lernen sichtbar machen“ (2013). Auch in Deutschland ist von einer wachsenden Heterogenität der Lerngruppen in der Erwachsenenbildung auszugehen. Dadurch gewinnt insbesondere die Individualdiagnostik an Bedeutung. Die von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in dem „Programme for the International Assessment of Adult Competencies“ (PIAAC) durchgeführte Erhebung zeigt, dass fehlende Kompetenzen und Qualifikationen die erfolgreiche Teilhabe an der Gesellschaft einschränken, d.h. dass letztlich die Chancen des Einzelnen auf dem Arbeitsmarkt sinken (Heinrichs, 2015b).
All diese Punkte führen zu dem Schluss, dass ein den Lernerbedürfnissen angemessener Unterricht, nur ein individualisierter Unterricht sein kann. Individualisiertes Unterrichten benötigt wiederum ein fundiertes Wissen um das Vorwissen und die Lernkompetenzen jeder einzelnen Schülerin, jedes einzelnen Schülers. Der Weg dorthin besteht in einer gewissenhaft und fundiert gestalteten Diagnose, die es ermöglicht, unterrichtsrelevante Hypothesen und vorläufige Feststellungen für die Planung von Unterricht zu formulieren.
Pädagogische Diagnostik? Wozu?
Nein, Lehrer/innen sind keine Ärzte und Ärztinnen und doch gehört die pädagogische Diagnose zum Kern ihrer Arbeit. Wenn Lehrer/innen diagnostizieren, erschließen und analysieren sie – mit den Instrumenten und Verfahren der pädagogischen Diagnostik – Lernvoraussetzungen, Lernprozesse und Lernstände von Lernenden und leiten daraus Maßnahmen ab. Dabei richten sie ihren Blick vor allem auf die Ressourcen jeder/s einzelnen Lernenden (BMBF, 2015, S. 36).
Diagnostizieren gehört zum Kerngeschäft von Lehrer/inn/en. Um Schüler/innen wirksam beim Lernen unterstützen zu können, müssen sich Lehrer/innen immer wieder ein Bild davon machen, wo ihre Schüler/innen gerade stehen, sonst agieren sie leicht an deren Bedürfnissen vorbei. Dabei ist es wichtig, den Lernprozess aus der Perspektive des Schülers/der Schülerin zu sehen: Über welches Vorwissen verfügt er/sie? Ob und inwieweit wurde ein Ziel bereits erreicht bzw. eine Kompetenz erworben? Wo besteht noch Verbesserungsbzw. Förderbedarf? Was kann der/die Schüler/in besonders gut? Wo liegen die Interessen und Stärken? Wo hat er/sie Schwierigkeiten? Förder- oder Lernprozessdiagnostik dieser Art dient nicht nur der Unterstützung der Lernenden und deren Lehrer/innen, sondern auch der Eltern (BMBF, 2015, S. 35).
Diagnostische Feststellungen bzw. Urteile können „einerseits der Selektion dienen, wobei es sich dann häufig um statusdiagnostische und explizite Urteile handelt, die zudem zumeist mithilfe formeller oder semi-formeller Methoden erhoben wurden“ (Heinrichs, 2015a, S. 19). „Andererseits lassen sich Diagnosen finden, die der Modifikation dienen und sich der Prozessdiagnostik zuordnen lassen. Zumeist münden diese Diagnosen in impliziten Urteilen und bedienen sich informeller Methoden.“ (Heinrichs, 2015a, ebd.)
Können sich Lehrer/innen nicht einfach auf ihr Bauchgefühl verlassen?
„Das Bauchgefühl ist für schnelles Handeln in laufenden Unterrichtsprozessen unverzichtbar, angemessen und sehr sinnvoll. Und es ist mitunter auch trügerisch. Empirische Untersuchungen belegen, dass Lehrer/innen die Rangfolge der Schülerleistungen innerhalb einer Klasse recht genau einschätzen. Bei der Einschätzung des absoluten Niveaus von Schülerleistungen kommt es allerdings sehr häufig zu Fehlurteilen.
Es gibt also Situationen im pädagogischen Schulalltag, in denen es zur Überprüfung, Ergänzung und Bestätigung von subjektiven Urteilen eine kriteriengeleitete Diagnostik braucht. Wichtiger als eine hohe Genauigkeit ist dabei die Bereitschaft, einmal gebildete Urteile zur reflektieren und bei Bedarf anzupassen. (BMBF, 2015, S. 35)
Dabei kommt Lerndiagnosen eine grundlegende Bedeutung zu. Sie beschreiben methodische Lernvoraussetzungen der Schüler/innen sowie deren Fähigkeiten und Fertigkeiten in Bezug auf die Wissensaneignung. Ebenso werden emotionale und motivationale Kriterien erhoben. Nach Buholzer (2010) folgen Lerndiagnosen dabei folgenden Punkten:
- „Lerndiagnosen befassen sich mit individuellen Lernprozessen und erlauben so eine Anerkennung
- dessen, was Kinder und Jugendliche leisten und lernen.
- Lerndiagnosen richten den Blick auf das Kind und auf das Verstehen der individuellen Lernprozesse und weniger auf die curricularen und durch die Institution Schule reproduzierten Normen und Formen der Leistungsbeurteilung.
- Lerndiagnosen liefern aber nicht nur Informationen für individuelle Förderprozesse, sondern auch für die Planung und Steuerung des Unterrichts insgesamt.
- Lerndiagnosen bieten Gesprächsanlässe, um über das beobachtete Lernverhalten zu sprechen: Schülerinnen und Schüler beraten dann gemeinsam mit ihrem Lehrer oder ihrer Lehrerin, wie die Arbeit verbessert werden könnte und welche Schritte jetzt anstehen, damit der Einzelne und auch die Klasse vorankommen […]“ (Buholzer, 2010, S. 5–6).
Lern und Lernprozessdiagnostik in der Praxis
Lerndiagnosen kommen in der Praxis auf vielfältige Art und Weise zustande und reichen von mehr oder weniger zufälligen Beobachtungen bis hin zu langfristig geplanten und systematisch angelegten Überprüfungen ausgewählter Leistungsbereiche. Als besonders hilfreich zur Gewinnung pädagogischer Einsichten und die Entwicklung von Förderperspektiven haben sich dabei das Beobachten, das Lehr-Lern-Gespräch sowie Lernstandserfassungen erwiesen. (Buholzer, 2010, S. 6)
Lernprozessdiagnostik ist in den meisten Fällen in das Unterrichtsgeschehen eingebunden. Sie findet immer dann statt, wenn Lehrende geplant und systematisch Informationen zum Lernstand und Lernprozess der Lernenden einholen, um daraus Fördermaßnahmen abzuleiten bzw. die Schüler/innen selbst zu eigenverantwortlichem Lernen zu befähigen. Das kann z.B. eine gezielte Beobachtung einer einzelnen Schülerin/eines einzelnen Schülers im Rahmen einer kooperativen Arbeitsphase im Deutschunterricht sein, in der ihre Teamfähigkeit mittels Beobachtungsbogen erhoben wird, oder die Auswertung der schriftlichen Selbsterklärungen der Klasse […], die zu Lösungsmöglichkeiten von Gleichungen in der Mathematikstunde verfasst wurden. (BMBF, 2015, S. 35)
Was haben die Schüler/innen davon, wenn sich ihre Lehrer/innen mit Lernprozessdiagnostik auseinander setzen?
„Wissenschaftlichen Studien zufolge ist Kompetenz im Bereich Lernprozessdiagnostik bei Lehrenden ein wesentlicher Faktor für den Erfolg der Lernenden. Das Wissen um die individuellen Lernvoraussetzungen, Lernprozesse und Lernstände ist Grundlage für individuelle Förderung und Lernprozessbegleitung sowie für das selbstgesteuerte Lernen der Schüler/innen“ (BMBF, 2015, S. 35).
Adaptiver Unterricht – Darunter verstehen wir einen Unterricht, der sich unter Berücksichtigung der allgemeinen Gesetzmässigkeiten des Lernens und Lehrens an die individuellen Gegebenheiten der Schülerinnen und Schüler anpasst und die Lernumgebung entsprechend gestaltet. Dies erfordert auf Seiten der Lehrperson Kompetenzen in folgenden Bereichen […]:
1. Schülerunterstützende Diagnosen: Lehrpersonen erkennen Ressourcen, Fähigkeiten und individuelle Bedürfnisse der Lernenden. Sie können den Lernenden und Erziehungsberechtigten eine klare und nachvollziehbare Rückmeldung über die Lernentwicklung und ihre Perspektiven geben.
2. Binnendifferenzierte Unterrichtsgestaltung: Lehrpersonen gestalten Lernumgebungen mit individuellen und gemeinschaftlichen Anteilen, die dem Spektrum der unterschiedlichen Lernvoraussetzungen angepasst sind.
3. Lernprozesse steuern: Lehrpersonen haben Vertrauen in die Lernbereitschaft ihrer Lernenden und unterstützen sie darin zu entdecken, wie sie auch gemeinsam mit anderen den eigenen Lernprozess steuern können.
4. Ressourcen vernetzen: Lehrpersonen können divergente Anforderungen mit dem eigenen Rollenbild in Einklang bringen. Sie schätzen ihre Stärken und Grenzen im Umgang mit Heterogenität realistisch ein und holen sich entsprechendes Know-how durch Zusammenarbeit und Weiterbildung.
5. Sozialgefüge Lerngruppe: Lehrpersonen sind überzeugt, dass Konflikte und Auseinandersetzungen zum Zusammenleben gehören und Lernmöglichkeiten darstellen. Sie übernehmen die Verantwortung für Schwächere, ohne diesen die Eigenverantwortung abzunehmen.
6. Strukturen und ihre Dynamik: Lehrpersonen sind sich des Zusammenhangs von Schulstruktur, der Struktur der heterogenen Lerngruppe und ihrem eigenen Verhalten sowie dem Verhalten der Lernenden bewusst (Buholzer, 2010, S. 3–4).
(Autor: Josef Eisner)
Literaturverzeichnis
BMBF (2015). Pädagogische Diagnostik (Bundesministerium für Bildung und Frauen, Hrsg.). Wien.
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