1

Individualisierung muss KEINE Utopie sein!

Unterrichtsroutinen strukturieren und gliedern zum einen den Unterricht, zum anderen geben sie den Schülerinnen und Schüler Sicherheit, Orientierung und Halt.

Dennoch sollten diese „Rituale“ ab und zu hinterfragt und neue Möglichkeiten entdeckt und ausprobiert werden.

Dies bedarf einer kritischen Reflexion folgender Fragen:

  • Wie klar ist meinen Schülerinnen und Schülern, welche Ziele sie im Unterricht erreichen sollen?
  • Wie gut gelingt es mir als Lehrperson, einzelnen Schülerinnen und Schüler dabei zu unterstützen, dass sie bestimmte Lernziele erreichen können?
  • Welche Schülerinnen und Schüler fühlen sich durch meine Unterrichtsroutinen gut gefördert und bei welchen Lernenden wird eine zusätzliche Unterstützung benötigt?
  • Wie sensibel bin ich auf Fragen, Wünsche und Rückmeldungen der Lernenden eingegangen?
  • Welche Hinweise wurden mir dadurch geliefert und in welcher Art konnte ich damit die Lernenden in ihrem individuellen Fortschritt unterstützen?

Die Gemeinsamkeit dieser Fragen besteht darin, dass Unterrichtsroutinen – aus der Perspektive der Lernenden – dann als qualitativ hoch angesehen werden, wenn sie jeder Schülerin und jedem Schüler ein erfolgszuversichtliches Lernen in einer angenehmen Klassenatmosphäre ermöglichen.

Nun stellt sich folgende Frage: Wie kann ich als Lehrperson das für alle Kinder gleichermaßen bewerkstelligen?

Im Folgenden werden Vorschläge und Anregungen für einen individualisierten Unterricht erläutert – ohne dass sich die Lehrperson dazu „vierteilen“ muss.

Maßnahme 1: Vereinbarungen treffen anstatt für andere entscheiden

  • Gute Lernbedingungen für Schülerinnen und Schüler sollten schon zu Beginn des gemeinsamen Unterrichtsjahres festgelegt werden.
  • Themen und Ziele für einen bestimmten Zeitraum sollten gemeinsam vereinbart werden.
  • Vereinbarungen bezüglich Hausaufgaben sollten gemeinsam getroffen werden.
  • Folgende Fragen können in diesen Situationen Klarheit schaffen:
    • Wie können wir als Klasse die verschiedenen Interessen der Lernenden und Forderungen gemeinsam umsetzen?
    • Was erwarten die Lehrpersonen von den Lernenden im Unterricht und umgekehrt? Welche Erwartungen sind miteinander kombinierbar, welche müssen diskutiert werden?
    • Wie wird das Gelernte im Unterricht überprüft und sichergestellt? Gibt es neben herkömmlichen Prüfungsformaten auch andere Formen von Leistungsüberprüfungen?
  • In dieser Maßnahme werden also die Grundsteine für die Individualisierung gelegt, obwohl hier eher gemeinsame Vereinbarungen getroffen werden. Die Maßnahmen stärken das positive Miteinander und die Zuversicht der Lernenden, von Lehrpersonen individuell ernst genommen zu werden.

Maßnahme 2: kurze Inputs – lange Übungszeiten – Selbstkontrolle fördern

  • Die Input-Phase sollte möglichst kurzgehalten werden. Die Schülerinnen und Schüler werden seitens der Lehrperson informiert, welche Lernziele verfolgt werden und welches Wissen sie benötigen, um lernzielrelevante Aufgaben bearbeiten und meistern zu können.
  • Der Großteil der Unterrichtszeit wird für die Bearbeitung der Aufgaben eingeplant. Die Arbeitsmotivation der Schülerinnen und Schüler soll durch eigenes Auswählen aus einem Pool von Aufgaben mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad gestärkt werden. Weiters soll es möglichst keinen Zeitdruck geben und die Sozialform kann ebenfalls von den Lernenden selbst bestimmt werden. Feedback nach jedem Lernschritt ist hierbei von Bedeutung.
  • Lehrkräfte regen die Schülerinnen und Schüler an, ihre Aufgaben selbst zu kontrollieren. Hier muss erwähnt werden, dass die meisten Lernenden diese Form der Überprüfung noch nicht kennen und sich erst daran gewöhnen müssen.

Maßnahme 3: Vereinbarungen zur Lernkultur auf Schulebene

  • Die vorher genannten Maßnahmen können noch dadurch unterstützt werden, dass der gesamte Lehrkörper bzw. einige Lehrkräfte sich ein gemeinsames Vorgehen überlegen.
  • Schülerinnen und Schüler profitieren in dem Sinne, dass sie sich über mehrere Fächer an eine gemeinsame Lernkultur gewöhnen können.

Was heißt nun Individualisierung konkret für Lehrerinnen und Lehrer?

Man soll Schülerinnen und Schülern zutrauen, selbstgesteuert zu lernen. Dazu müssen passende Lerngelegenheiten mit qualitativen Aufgaben zu bestimmten Themen und Zielen geschaffen werden.

Individualisierung bietet die Möglichkeit, Lernende zu unterstützen, die Hilfe wünschen und so ihre Lernziele besser erreichen können. Dabei darf den Schülerinnen und Schülern aber nichts abgenommen werden, was sie eigenständig erledigen können.  

 

Für mich stellen diese Maßnahmen vernünftige praktische Tipps dar, wie Individualisierung gelingen kann. Individualisierung wird oft als didaktische Herausforderung angesehen, die für Lehrpersonen kaum oder nur schwer zu bewältigen ist. Als besonders schwierig gilt die individuelle Betreuung jedes einzelnen Lernenden. Ich sehe diese Schwierigkeit nur bedingt und stelle im Umkehrschluss die Frage: Ist es möglich, alle Kinder gleichzeitig zu betreuen? Definitiv nicht, deshalb kann der Weg nur in Richtung Individualisierung gehen!

 

Autorin: Sophie Ottino

Quelle:
Hofmann, F. (2008). „Ich kann mich als Lehrer/in nicht vierteilen“ – aber das ist auch nicht nötig. Maßnahmen zur Individualisierung im Unterricht. Erziehung & Unterricht.  österreichische pädagogische Zeitung, 158, 723-729.




Inklusion: Gemeinsam verschieden sein!

„Der Unterricht in einer Klasse, in der alle Kinder – blinde, hochbegabte, hyperaktive, ängstliche, aggressive und behinderte – gemeinsam lernen sollen, muss so gestaltet sein, dass die Bedürfnisse jedes einzelnen Kindes berücksichtigt und gefördert werden!“

 

Das Konzept der Inklusion geht im Allgemeinen davon aus, dass alle Menschen unterschiedlich sind, ihnen aber die gleichen Möglichkeiten für Teilhabe und Mitbestimmung zustehen. Damit sollen Diskriminierungen von Menschen jeder Art und auf allen Ebenen abgebaut und eine chancengerechte Entwicklung aller Menschen erreicht werden.

Im Schulbereich wird Inklusion oft als Strategie zur Erreichung einer „Bildung für alle“ verstanden. Bildung wird als grundlegendes Menschenrecht angesehen – nicht nur der Zugang zu Bildung, sondern auch die aktive Teilnahme daran und das Erzielen von entsprechenden Lernerfolgen.

Inklusive Pädagogik verfolgt ein Prinzip der Wertschätzung von Diversität und Vielfalt in Bildung und Erziehung. Im Inklusionskonzept werden Schülerinnen und Schüler nicht in bestimmte Gruppen eingeteilt – und somit getrennt – nein, vielmehr geht es um die Gesamtheit der Schülerinnen und Schüler, die aus Mitgliedern mit unterschiedlichen bzw. individuellen Bedürfnissen besteht.

Das Konzept der inklusiven Bildung stellt einen großen Teil dessen in Frage, wie Unterricht heute traditionellerweise in Schulen organisiert und koordiniert ist. Es bedeutet und fordert Veränderung auf vielen Ebenen.

Im Folgenden gehe ich genauer auf die Ebene der Lehrpersonen ein:

  • Inklusion fordert einen handlungsorientierten, interaktiven und offenen Unterricht.
  • Lehrpersonen müssen in ihrer Arbeit eine inklusive Haltung einnehmen und vertreten.
  • Sie müssen Ressourcen bieten, Beteiligung der Lernenden ermöglichen und Förderungen anbieten.
  • Sie leisten Schülerinnen und Schüler Hilfestellung, welche an deren individuelle Bedürfnisse angepasst ist.
  • Lehrkräfte müssen Diskriminierung erkennen und vermeiden und dafür Regeln erstellen und vereinbaren.
  • Sie sichern Heterogenität und reflektieren die eigenen Werte und Haltungen.
  • Sie sorgen für eine Unterrichtsgestaltung, welche eine aktive Teilnahme der Lernenden anregt.
  • Die Leistungsbeurteilung erfolgt als kompetenzorientierte Bewertung in Verbindung mit Aussagen zur individuellen Lernentwicklung.
  • Lehrpersonen suchen und fördern Kooperation mit Eltern, Öffentlichkeit, Expertinnen/Experten und Institutionen.

Nachfolgend nun weitere wichtige Kriterien für eine erfolgreiche Umsetzung inklusiver Pädagogik:

  • Im Lehrerkollegium werden gemeinsame Ziele formuliert.
  • Die Erarbeitung eines gemeinsamen Verständnisses von Inklusion wird umgesetzt.
  • In der Lehrerschaft ist das Bewusstsein einer gemeinsamen Aufgabe vorhanden.
  • Die Schaffung von sich gegenseitig unterstützenden Strukturen wird umgesetzt.
  • Lehrkräfte stellen sich der Reflexion über ihre eigenen Haltungen, Lebenszusammenhänge und Vorurteile.
  • Die Schulverantwortlichen schaffen eine Atmosphäre, in der sich alle Schülerinnen und Schüler wohl und willkommen fühlen.
  • Eine besondere und individuelle Förderung wird als etwas grundsätzlich „Normales“ im Unterricht gesehen.
  • Ein besonderes Augenmerk wird auf das soziale Miteinander in- und außerhalb der Unterrichtsgruppen gelegt.

 

Meiner Meinung nach muss sich „Schule“ genau in diese Richtung bewegen – Inklusion muss gelebt und umgesetzt werden. Aber genau diese Umsetzung fordert Veränderung und ein Verlassen so mancher „Komfortzone“. Daher kann eine inklusive Pädagogik nur im Zusammenwirken aller Lehrpersonen verwirklicht und umgesetzt werden. Wesentlich dabei ist, nicht nach Gründen zu suchen, warum etwas nicht möglich ist, sondern realistische Veränderungen umzusetzen und voranzutreiben. Mit der Umsetzung des Konzepts der Inklusion erfahren Lernende und Lehrpersonen neue soziale Erfahrungen in einem lebendigen und vielfältigen Unterricht. Der Horizont des Einzelnen wird erweitert und Empathiefähigkeit entwickelt. Im Lernen durch Handeln wird zum einen Teamarbeit und zum anderen aber die eigene Individualität gefördert.

 

Autorin: Sophie Ottino

Quelle:
IMST – Gender Netzwerk (2012.) Inklusion. Eine gemeinsame Schule. Verfügbar unter https://www.imst.ac.at/app/webroot/files/GD-Handreichungen/handreichung_inklusion_11-2012.pdf.