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Geschlecht als zentrale Achse der Differenz(-ierung)?

Geschlecht ist die zentrale Achse der Differenz(-ierung) nicht nur in der Gesellschaft, aber auch in der Schule.

Warum? 

1. Weil Geschlecht, genauso wie die anderen zwei Kategorien sozialer Ungleichheit – social class und race (soziale and ethnische Herkünfte) –zur sozialen Ungleichheit beiträgt, indem es „die Möglichkeiten des Zugangs zu Ressourcen, Macht und Rechten [beeinflusst].

[…] Geschlecht ist eine Kategorie, anhand derer sich Ungleichheiten formen und Hierarchisierungen entwickeln, die wiederum grundlegend Strukturen, Wahrnehmungen und Verhalten prägen, so auch in der Schule” (Bartsch/Wedl, S.10): ein Teufelskreis, der schwer, aber trotzdem zu durchbrechen ist. 

2. Weil Schule ein wichtiger Teil der Gesellschaft ist: in der Schule wird die Zwei-Geschlechter-Ordnung nicht nur alltäglich erlernt und hergestellt (durch die inkompetente Thematisierung von Geschlecht), sondern auch zugespitzt.

Schule ist kein geschlechtsneutraler Raum (so wie unsere Gesellschaft). Schule ist eine Bühne, wo das konstante “Spiel der Geschlechter” stattfindet (so wie in unserer Gesellschaft üblich).

3. Weil Schule ein spezifischer Sozialisationsort ist, wo aktiv in den Prozess der Herstellung von Zwei-Geschlechter-Ordnung eingegriffen werden kann, um die Thematisierung von Geschlecht kompetent zu steuern, und somit die Geschlechtergleichheit in unserer Gesellschaft ein Stück nach vorne zu bringen (Bartsch/Wedl, S.9).

Die „Zwei-Geschlechter-Ordnung“ ist kein gesellschaftliches Modell, das unserer Gesellschaft inhärent ist, sondern es hat sich in dem europäischen Raum erst mit dem 18. Jahrhundert durchgesetzt, d.h. es ist veränderbar und ausgestaltbar (Bartsch/Wedl, S.15).

Idealerweise soll Familie der erste Ort sein, wo Geschlechterdemokratie, d.h. Geschlechtergleichheit beigebracht werden soll. In der Familie werden Geschlechterverhältnisse durch zwischenmenschliche Interaktionen erlernt, d.h. Kinder lernen durch das Beobachten, z.B. wie ihre Eltern sich ausdrücken, verhalten und miteinander umgehen, sowie mit anderen Mitgliedern der Gesellschaft, u.a. Nonkonformisten, oder wie sie sich die Haushaltsaufgaben teilen (geschlechtsneutral oder geschlechtsspezifisch), wie sie mit Geschlechterstereotypen umgehen und Geschlechterrollen verstehen, etc.

Realität sieht aber etwas anders aus, wenn Kriminalitätsstatistiken in Betracht gezogen werden.

Eine von drei Frauen in Europa hat in ihrem Leben schon mindestens einmal Gewalt erfahren, auch in Österreich. Die Täter sind meist männliche Familienmitglieder, der Tatort das Zuhause. Dazu gehören körperliche und psychische Gewalt, sexuelle Übergriffe und Tötung.”

“Insgesamt hat die Zahl der Gewalttaten durch den Partner [in Deutschland] jedoch zugenommen – von 113.965 in 2017 auf 114.393 weibliche Opfer von häuslicher Gewalt im Jahr 2018 […]. Daneben gab es 26.000 Männer, die von ihren Frauen oder Ex-Partnerinnen bedroht, genötigt oder verletzt wurden.”

“Ebenso wurden 2018 18.526 Opfer familiärer Gewalt von den Gewaltschutzzentren und Interventionsstellen betreut. 84% der unterstützten KlientInnen waren Frauen und Mädchen, 91% der Gefährder waren männlich”

Das sind nicht einfach tragische Zahlen. Das sind Zahlen, die viel über Geschlechterordnung in unserer Gesellschaft vermitteln (zu bedenken ist, dass die Zahlen nur den sichtbaren Teil des Eisbergs “Häuslicher Gewalt” zeigen und zwar in demokratischen und wohlhabenden EU-Ländern wie Deutschland und Österreich).

Wie bereits gesagt, Schule ist ein wichtiger Teil der Gesellschaft, wo das “Spiel der Geschlechter” gleichermaßen stattfindet und zwar nach den Mustern, die Kinder in ihren Familien (unbewusst) erlernen. Das heißt, es soll nicht davon ausgegangen werden (wie es oft der Fall ist), dass primär durch die elterliche Erziehung das Verständnis für die Gleichstellung von Frauen und Männern und das Reduzieren von Geschlechterstereotypen stattfindet. Es soll davon ausgegangen werden, dass die Schule der einzige Sozialisationsort für viele Kinder sein könnte, wo das Gefühl für Geschlechtergleichheit erzeugt werden kann und zwar durch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema. Das heißt, alle Lehrkräfte (fachunabhängig) sollen im Stande sein das Thematisieren von Geschlecht kompetent anhand der Kenntnisse der Gender Studies durchzuführen, und nicht „auf der Basis des Alltagsverständnisses, […] die vorhandenen Geschlechterverhältnisse [nicht nur (re-)produzieren], sondern [durch geschlechterdifferenzierendes Handeln, häufig unbewusstes, verstärken] (Bartsch/Wedl, S.12).

„Eine Thematisierung von Geschlecht in der Schule ist unerlässlich,“ postulieren Bartsch und Wedl, Herausgeberinnen von Teaching Gender, und nennen drei Hauptgründe: „(1) weil [Geschlecht] eine wirkmächtige (unbewusste) Konstruktionsweise ist, (2) aufgrund seiner Funktion als gesellschaftlich wirksame soziale Ungleichheitskategorie, (3) aufgrund der subjektiven Relevanz von Geschlecht für SchülerInnen und seiner Funktion als Identifizierungskategorie.“ Sie warnen aber, dass „nicht jede Thematisierung zum Abbau von Geschlechterstereotypen und normierenden Geschlechterzuweisungen [die Kinder in der Familie und Gesellschaft beobachten und unbewusst erlernen] beiträgt“ (Bartsch/Wedl, S.16).

Im Gegenteil: die Lehrkräfte, die sich nicht wissenschaftlich, reflektierend und kritisch mit der Problematik der Geschlechterdifferenzierung in der Schule auseinandersetzen, tragen zur „Dramatisierung der Differenz,“ d.h. Hervorhebung, in verschiedenen Unterrichtspraktiken alltäglich bei, „z.B.

  • die Ansprache als StellvertreterIn eines Geschlechts im Sinne einer Platzanweisung (»du als Mädchen/Junge, …«),
  • die Homogenisierung von Geschlechtergruppen (die Mädchen und die Jungen),
  • die Gruppen(ein)teilungen anhand des Geschlechts bzw. die explizite geschlechterhomogene Gruppenarbeit in Form von Jungen- bzw. Mädchenarbeit
  • Lob für geschlechtsadäquates Verhalten,
  • die Abfrage von Stereotypen, ohne diese kritisch aufzulösen,
  • ein Protektionismus für Mädchen, gekoppelt mit einem verallgemeinerten Verdacht auf Machtpositionen auf Seiten der Jungen,
  • geschlechtliche Zuweisungen von Verhalten, Kompetenzen, Eigenschaften oder
    Aktivitäten, und viel mehr“ (Bartsch/Wedl, S.17).

Das sind Beispiele, die aus mehreren empirischen Studien hervorgehen, u.a. aus Studien von Budde/Blasse 2014, Faulstich-Wieland 2005, Thiessen/Tremel.

Trotz der Gefahr der Dramatisierung sind Wissenschaftler zur Erkenntnis gekommen, dass es Situationen gibt, wo sie äußerst sinnvoll ist, z.B.:

  • „wenn Geschlechterbilder Barrieren für die Entwicklung individueller Vielfalt bilden,
  • wenn es zu Diskriminierung von Teilnehmenden bzw. Menschen aus deren Umfeld kommt, die sich nicht geschlechternormenkonform verhalten,
  • wenn ich [als Lehrkraft] Teilnehmenden Wissen zugänglich machen möchte, mit dem sie eigene Probleme oder auch Privilegien in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext stellen und damit auch politisiert bearbeiten können, anstatt alles individualisiert auf eigenes Versagen bzw. eigene Talentiertheit zu schieben oder das Erleben zu naturalisieren,
  • wenn ich Teilnehmende dazu befähigen möchte, eigene diskriminierende bzw. gewalttätige Verhaltensweisen oder die Verinnerlichung selbstschädigender Normen zu erkennen und abzubauen bzw. Wehrhaftigkeit gegenüber solchen zu entwickeln.“ (Bartsch/Wedl, S.19).

Jedoch kann, wie bereits erwähnt, die kompetente Thematisierung von Geschlecht nicht auf Basis des Alltagswissens von Lehrkräften passieren, sondern sie erfordert „eine große Flexibilität und Gender-Kompetenz,“ die auf den Erkenntnissen der Gender Studies aufgebaut werden soll (Bartsch/Wedl, S.20).

Quellen:

Bartsch, Annette/Wedl, Juliette (2015) Zum Reflektierten Umgang mit Geschlecht im Schulunterricht und in der Lehramtsausbildung, in: Bartsch, Annette/Wedl, Juliette (Hrsg.) Teaching Gender? Transkript Verlag: Bielefeld, 9-31.