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„Das Märchen von der inklusiven Chancengleichheit“ Oder: „Die Herkunftslotterie“

Es waren einmal zwei Säuglinge, auf den ersten Blick unterschied sie bis auf das Geschlecht rein gar nichts. „Gesunde Kinder“ bekundeten die Kinderärzte den jeweiligen Eltern, die sich – erleichtert ob der ebenso glücklichen wie erwarteten Nachricht (Warum sollte gerade unser Kind NICHT gesund sein?) – nun beruhigt in das Abenteuer Elternschaft stürzen konnten. Zum Glück nicht das erste Mal, man wusste ja jetzt, worauf zu achten sei, dass schon alles seinen gewohnten Gang nehmen werde, man müsse nur stillen und wickeln und lieben. Natürlich würde das eigene Kind schon groß und stark werden und den Widrigkeiten dieser Welt trotzen, schließlich werde man es nach Kräften dabei unterstützen.

Dann krachte die Realität wie ein Meteorit in die Idylle: Der Mutter des Mädchens, einer Ärztin, fiel nach zwei Monaten auf, dass das Kleine nur mit einer Seite Massenbewegungen ausführte und mit rechts nicht nach dem ausgestreckten Finger griff. Der mütterlichen Besorgnis Folge tragend wurde das Mädchen dem Kinderarzt vorgestellt, der die Mutter entnervt „als „typisch hysterische Ärztemutter“ abtat, „die die Flöhe husten höre“, was diese nicht davon abhielt, darauf zu beharren, dass etwas nicht stimme. In Eigenregie suchte die Mutter die Neuropädiatrie auf, war ja die Frau Kollegin, da geht das. Rasch stand die Diagnose fest – schlimmer als erwartet –: Spastische Halbseitenlähmung, selbständiges Gehen mehr als ungewiss. Für die Eltern des kleinen Mädchens brach eine Welt zusammen (Warum gerade das eigene Kind?), aber diese rafften sich schnell auf. Jahre voll Therapien – dreimal die Woche plus jeden Tag die Übungen, dabei das Geschwisterkind nicht vergessen – vergingen.

Die Eltern des Buben hingegen waren Gastarbeiter, einfache Menschen, der Sprache nicht hinreichend mächtig. Deshalb wurde die niederschmetternde Diagnose – spastische Halbseitenlähmung – erst gestellt, als der Kleine mit drei Jahren immer noch nicht imstande war zu laufen. Therapien ließ man dem Buben kaum angedeihen, geübt wurde nicht, wie auch, weitere Geschwister folgten rasch und die Mutter war mit der Aufzucht aller beschäftigt.

Im privaten Kindergarten (Der Junge war auf Intervention des Jugendamtes dort.) lernten sich die Kleinkinder kennen. Zwei Kinder, geeint durch ihre Diagnose, getrennt durch ihre Herkunft.

Das Mädchen konnte vielleicht nicht ihren Freundinnen kletternd auf Bäume folgen, es hatte aber tatsächlich das Laufen und die behinderte Hand als Hilfshand einzusetzen gelernt. Der Bub hingegen schleppte sich immer noch mühsam vorwärts und der gelähmte Arm war dabei, an den Oberkörper gepresst zu versteifen.

Die Kleinkinder wurden älter und der „Ernst des Lebens“ rückte unaufhaltsam näher. Das Mädchen sollte eine Regelschule besuchen, was der Direktor der betreffenden Volksschule nach Kräften zu verweigern trachtete: „Behinderte Kinder gehören in die Sonderschule, aber nicht in meine Regelschule!“ Die Eltern, Akademiker, fackelten nicht lange und drohten mit dem Landesschulrat. Ganz plötzlich lenkte der Direktor ein und das Mädchen wurde mit 23 gesunden Kindern eingeschult. Der Bub hingegen kam – wie gewünscht – in die Sonderschule, wo er – trotz rein körperlicher Einschränkung –sein ganzes Schulleben verbleiben sollte.

Während der Volksschulzeit verschlechterte sich das Gangbild beider Kinder massiv. Durch die Spastik hatten sich die Füße fast bis zur Unkenntlichkeit verkrümmt. Die verzweifelten Eltern des Mädchens wandten sich an die Orthopädie, was man denn tun könne, keine Schuheinlage, keine Schiene helfe mehr, man könne die Schmerzen des Mädchens beim Auftreten, die stummen Tränen, das unterdrückte Wimmern, die bitterlichen Klagen am Ende des Tages nicht mehr ertragen. Die konsultierte Orthopädin empfahl den Eltern, sich einen guten Psychologen zu suchen, wenn jene nicht ertragen könnten, dass das Mädchen zeit seines Lebens auf einen Rollstuhl angewiesen sein werde. Die Mutter, die Ärztin, wandte sich in ihrem Elend hilfesuchend an Kollegen und bekam einen Orthopäden in einer anderen Stadt empfohlen, der sich auf die orthopädischen Probleme körperlich behinderter Kinder spezialisiert hatte. Dieser operierte das Mädchen in einer langwierigen Operation tatsächlich erfolgreich. Die Kleine konnte wieder schmerzfrei laufen, erst in speziellen Schuhen, später in ganz „normal“ käuflich erwerblichen. Und der Bub? Bekam einen Rollstuhl verschrieben.

Die ersten vier Schuljahre verflogen. Das Mädchen kam ins private Gymnasium, der Junge verblieb in der Sonderschule. Nach der Pflichtschulzeit wollte das Mädchen etwas „Lebenspraktischeres“ erlernen und in eine katholische HLW mit Öffentlichkeitsrecht wechseln. Beim persönlichen Anmeldungsgespräch wurde vom Direktor kundgetan: „Wir nehmen keine Behinderten.“ Beim ungläubigen Blick der Eltern plötzlich: „Außer… Welches Parteibuch haben Sie?“ Damit konnten die politisch nicht engagierten Eltern nicht dienen, sie waren mit Beruf und behindertem Kind bekanntlich ausgelastet, worauf sich der Direktor genüsslich zurücklehnte und salbungsvoll sprach: „Wäre Ihre Tochter die Tochter des Bürgermeisters, dann – ja dann – wäre ein Platz bei uns kein Problem!“ Fassungslos brachen die Eltern das Gespräch ab, aber nicht ohne die Drohung, dies an die Medien weiterzuleiten, wenn er – der Direktor – sich nicht persönlich um einen alternativen Platz an der zweiten katholischen HLW der Stadt kümmern würde. Was tatsächlich geschah und wo das Mädchen problemlos maturierte. Der Bub hingegen kam mit 15 Jahren in eine berufsfördernde Einrichtung für geistig behinderte Jugendliche.

Nach der Matura wurde das Mädchen Mutter eines Sohnes, welcher ebenfalls primär als gesund betitelt wurde. Der Bub hingegen wurde an einer Behindertenwerkstätte angestellt.

Während das einstige Mädchen zu studieren begann, wurde dem jetzigen Kleinen – wieder nach zähem Ringen – schlussendlich ADHS und Autismus attestiert.

Heute hat die inzwischen erwachsene Frau mit den gleichen Problemen wie ihre eigenen Eltern zu kämpfen: Wehrt man sich nicht beharrlich gegen vermeintliche „Obrigkeiten“ und antiquierte, aber gesellschaftlich verfestigte Ansichten, hat das eigene Kind verloren.

 

Nachwort:

Der obige Blogartikel ist leider nicht erfunden, sondern behandelt autobiographisch meine eigene Lebensgeschichte, die meines alten Kindergartenfreundes, der nie ganz aus meinem Leben verschwunden ist, und die meines eigenen psychisch behinderten Sohnes. Zeitlich ist das Beschriebene seit meiner Geburt Mitte der 1990er geschehen. Zu verorten ist es in der Stadt Salzburg.

 

von Christina Schöppl