Chancenlos gefangen im System
Persönliche Stellungnahme zweier LehramtsstudentInnen zu dem Kapitel „Chancenlos von Anfang an“ aus dem Buch „Generation haram. Warum Schule lernen muss, allen eine Stimme zu geben.“ Von Melissa Erkurt. Ein Text von Christina Schöppl und Markus Lohberger
Wir kommen aus einer sehr behüteten Familie: Die Mahlzeiten wurden immer gemeinsam eingenommen, am Abend wurde uns vorgelesen und man versuchte unseren Fernsehkonsum gering zu halten, weil es damals hieß, dass es schlecht für die Augen sei. Wir erledigten unsere Hausübungen, während unsere Mutter am Herd stand und das Essen vorbereitete und am frühen Abend fielen wir unserem Vater in die Arme, wenn er von der Arbeit nach Hause zurückkehrte. Im Großen und Ganzen war es ein behütetes Heranwachsen in einer klassischen Familienkonstellation mit Mutter, Vater und Kindern. Diese Situation stellte für uns etwas Normales und Gegebenes dar. Uns war nicht bewusst, dass es nicht allen so ging. Mit den Jahren des Heranwachsens wird einem erst klar, dass nicht alle so viel Glück ihr Eigen nennen. Je älter man wird und umso mehr Leute man kennenlernt, desto mehr Geschichten erfährt man. Man kennt die Probleme von Freunden und lernt die Schwierigkeiten kennen. Man versucht jenen zu helfen. So geht es auch den Lehrpersonen aus dem Text. Diese kennen die Probleme der SchülerInnen. Sie erfahren, dass Kindern in der Volksschule noch nie das beglückende Gefühl zuteilgeworden ist, dass jemand ihnen vorliest und eine Welt vor ihrem inneren Auge entsteht. Lehrpersonen erfahren, dass viele SchülerInnen Probleme mit dem Deutschen haben, nicht weil sie es nicht lernen wollen, sondern weil sie außerhalb der Schule keinen Kontakt zu deutschsprachigen Leuten haben. Sie erfahren alle diese Probleme und wollen helfen. Sie wollen ihre Aufsichtspflicht erfüllen und zugleich gute Menschen sein. In unserem System ist das allerdings schwer möglich. Als LehramtsstudentIn erlangt man bereits eine gewisse Einsicht in die Lebenswelt von Lehrpersonen. In unserem Verwandtenkreis gibt es selbst einige Lehrpersonen, von denen wir Geschichten kennen.
Lehrpersonen haben in den letzten Jahren an Ansehen verloren. In der Zeit unserer Großeltern wurden LehrerInnen noch als Autoritätspersonen von SchülerInnen und Eltern gesehen. Mittlerweile ist dieses Ansehen deutlich gesunken. Lehrpersonen sind in einen Zwiespalt geraten: Sie sollen einerseits sicherstellen, dass SchülerInnen den angestrebten Standard erreichen, andererseits sollen sie aber auch ein Verständnis für ihre Schutzbefohlenen haben, diese in ihren Talenten fördern und auch sonst unterstützen. Gleichzeitig wollen LehrerInnen natürlich auch Zeit für ihr Privatleben und ihre eigene Familie behalten. Besagte unterschiedlichen Ziele unter einen Hut zu bringen fällt nicht leicht. Obwohl Lehrpersonen lediglich etwa 22 Stunden in der Schule im Unterricht zubringen, kommt auch noch die Vor- und die Nachbereitung der Stunden dazu. Diese fällt vor allem gewaltig aus, wenn ein/eine LehrerIn wirklich engagiert ist und den Unterricht speziell auf die jeweilige Klasse zuschneidet. Vor allem in der jetzigen Situation mit der Corona-Pandemie ist das Lehramt zu einem permanenten Bereitschaftsjob geworden, da Eltern und SchülerInnen immer wieder Kontakt suchen, wenn etwas im Distance-Learning nicht verstanden wurde.
Man kann sich die Situation eigentlich sehr einfach vorstellen. Ein/eine LehrerIn soll mittlerweile bei der Erziehungsarbeit der SchülerInnen mithelfen. Eine durchschnittliche Klasse nennt 25 SchülerInnen ihr Eigen. In der Volksschule befindet sich eine Lehrkraft täglich etwa vier Stunden in der Klasse. In der Sekundarstufe fällt diese Zahl auf eine bis zwei Stunden herab. In diesem Zeitraum sollen Lehrer Probleme beheben, die Schüler zuhause haben. Dies aber nicht für ein oder zwei Kinder, sondern vor allem in Brennpunktschulen für ganze Klassen. Gleichzeitig muss die Lehrkraft aber ihre Aufgabe erfüllen und die SchülerInnen bewerten. Die Funktion einer Schule ist einerseits die Wissensvermittlung, andererseits die Bewertung. Sind SchülerInnen gut genug, um die Schulstufe zu bestehen oder um die Reifeprüfung zu erhalten? Besagte Situation wurde auch in dem Text von Melisa Erkurt behandelt.
Die komplett unterschiedlichen Aufgaben und Bedürfnisse sind unserer Meinung nach im jetzigen System nicht unter einen Hut zu bringen. LehrerInnen sollen in ihrem Unterrichtsgegenstand auf einem akademischen Niveau sein, das in der Schule keinesfalls erreicht wird. Sie sollen eine didaktische Ausbildung haben und zusätzlich ein offenes Ohr für ihre SchülerInnen haben und die Erziehungsfehler der Eltern ausbügeln. Für diese Aufgaben fehlen unserer Ansicht nach die unterstützenden Strukturen und Förderungen, die dafür nötig wären. Wenn man all diese Aufgaben bewältigen soll, dann müsste die Klassengröße verringert werden, man bräuchte mehr Zeit mit den Schülern, in denen man keinen Stoff „durchbringen“ muss, um jene auf die Matura vorzubereiten, man bräuchte eine/n weiteren Pädagogen/-in, der sich auf bestimmte SchülerInnen genauer konzentrieren kann. Die hier beschriebene Problematik ist schlussendlich eine gesellschaftliche und politische, die auf dem Rücken der Schulangestellten und in weiterer Folge auf dem der heranwachsenden Generation ausgefochten wird.