Geschlecht als Falle
Die Norm, sich eindeutig einem der beiden sozial konstruierten Geschlechter (Mann oder Frau) zugehörig zu fühlen, löst bei Jugendlichen vermehrt Angstzustände und ein erhöhtes Stressrisiko aus.
Die US-amerikanische Philosophin Judith Butler hat genau zu diesem Thema, 2009 ein Buch verfasst mit dem Titel: „Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen“, in dem sie ihre Erfahrungen mit Geschlechternormen teilt. Doch was genau sind Geschlechternormen? Die Norm, sich entweder Mann oder Frau zugehörig fühlen zu müssen. Die Norm, einen zu diesem Geschlecht, passenden Körper haben zu sollen und bei Nicht-Vorliegen operativ zu verändern. Die Norm, zum vorliegenden Körper ein zeitgemäßes geschlechtliches Ich-Gefühl entwickeln zu sollen. Die Norm, ein zu Körper und Geschlecht, passendes heterosexuelles Begehren entfalten zu sollen oder wollen. Eben diese letzte Norm, macht es für Transsexuelle, Intersexuelle und Homosexuelle sehr schwer sich in die Gesellschaft einzubringen, ohne benachteiligt oder „schief angeschaut“ zu werden.
Laut Butler ist das Geschlecht eine kulturelle Konstruktion, die vorfindbaren Körpern übergestülpt wird. Das heißt, dass man nicht als Mann oder Frau geboren wird, sondern als Mensch. Durch die Art, wie auf die Körper geblickt wird und welche Teile an ihnen geschlechtlich aufgeladen werden, wird ein männlicher oder weiblicher Körper in den Köpfen der Menschen konstruiert. Dies macht es uns einerseits leichter einer Gruppe anzugehören (da es nur zwei gibt), grenzt aber all jene aus, die sich keiner der beiden Gruppen anschließen können oder möchten. Diese Ausgrenzung und das ständige Gefühl irgendwo zugehörig zu sein, kann zum Einfallstor ausgesetzten Leidens werden und bis zum Verlust von Lebenssinn und der Auslöschung des „Ichs“ führen.
Darüber hinaus lösen die Geschlechternormen nicht nur bei der Findung der eigenen Sexualität Probleme aus. Die Art, wie Mann und Frau in Online-Medien und Fernsehen gezeigt werden, hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Es werden immer jüngere Personen sexualisiert und geben dadurch falsche Signale an die Jugend weiter. Beispiel: Die Umstellung der Biene Maja. Früher war die Biene noch leicht dick und sah fast wie eine echte Biene aus. Heutzutage hat sie einen flachen Bauch und etwas, das beinahe aussieht wie Schminke im Gesicht. Dadurch werden vor allem junge Mädchen dazu verleitet, sich schon im Kindes -und Jugendalter, mit den Schminkartikeln der Mutter zu bemalen. Die Vorstellung, dass man ohne Gesichtsbemalung nicht schön ist, wird immer mehr verfestigt in den Köpfen der Kinder.
Durch eben solche falschen Vorbilder und Normen wird es für die kommenden Generationen immer schwieriger werden sich einer sozialen Gruppe zuordnen zu können, in der sie sich wohl und verstanden fühlen. Sollte man nun eine Gemeinschaft finden, die im Einverständnis der aktuell konstruierten sozialen Normen lebt, so kann sich ein Gefühl von Sicherheit, Wohlgefühl und Halt einstellen, denn die Vorstellung über das eigene Geschlecht und das akzeptierte Gefühls- und Artikulationsrepertoire mit der Gruppe übereinstimmen. Sollte man aber seine Bestimmung in der Rebellion gegen die Norm sehen, so kann aus einem mehr oder weniger starken Leidensdruck, Veränderung erwachsen. Grenzen und Regeln können verschoben und überschritten werden und dadurch ganz neue Lebensmöglichkeiten zu Tage treten. Die Begrenzung durch vorhandene Normen übernimmt hier eine produktive Funktion als Impulsgeber für die Veränderung, weil sie weg vom Leid und hin zum lebenswerten Leben einen lenkt.
In den letzten Jahren hat sich allerdings bereits einiges in Bewegung gesetzt. Die sozial-traditionell konstruierten Normen, welche das Gefühls- und Handelsspektrum der Geschlechter eingeschränkt haben, wurden zum Teil aufgehoben und gelockert. Frauen haben sich, und den nachfolgenden Generationen von Mädchen und Frauen, Erfahrungs- und Entfaltungsräume erarbeitet und erkämpft, die ihnen bislang verschlossen geblieben sind und spielen immer offener und selbstbewusster mit Verhaltensweisen und Attitüden die bisher Männern und Jungen vorbehalten waren. Ebenso beginnen Jungen und Männer bereits mit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte und auch das traditionelle Männerbild hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Männer dürfen mittlerweile ihre Gefühle offener zeigen und auch die Verbindung gleichgeschlechtlicher Liebender wird sozial immer stärker toleriert, schrittweise rechtlich gleichgestellt und auf diese Weise dann normalisiert.
Demnach, befinden wir uns bereits inmitten einer Veränderung, um die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen, und vor allem die Akzeptanz anders geschlechtlicher Personen, zum Guten hin zu wenden.