Persönlichkeitstheorie für Supervision und Intervision

Die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit vollzieht sich im Energiefeld zweier psychischer Pole. Dem Denken über sich selbst, den damit verbundenen Bewertungen und Annahmen auf der einen Seite und andererseits dem Denken über andere und den damit verbundenen Haltungen zu diesen. In diesem Spannungsfeld von Selbstmodell und Beziehungsmodell entwickeln sich primäre psychische und handlungsbezogene Muster des Individuums (Eisner, 2010). Die Bedeutung dieser bindungstheo­retischen Einflussfaktoren als fundamentales psychologisches Regulativ wird bei Kuhl (2010a), im Kontext emotionaler und motivationaler Selbstregulation, als innere Sicherheit beschrieben.

Nach Kuhl (2010a) ist ein guter Selbstzugang Voraussetzung für Empathie, welche folglich Voraus­setz­ung des Zugangs zum „Du“  ist und so erst situationsgerechtes und bedürfnisgerechtes Interve­nieren möglich macht. Also, eine Voraussetzung für soziales Verhalten. Grundlage eines guten Selbst­zuganges ist die ausgewogene Verfügbarkeit kognitiver verhaltens­steuernder Ressourcen, welche Kuhl in seiner Persönlichkeits-System-Integration Theorie (PSI) in vier Makrosysteme gliedert (Kuhl & Alsleben, 2009, 2009; Martens & Kuhl, 2013, 2013).

Dazu gehört die intuitive Verhaltenssteuerung (IVS), welche vornehmlich auf das Ausführen von automatisierten Handlungen spezialisiert ist. Alles was intuitiv und spontan in die Welt tritt, hat in irgendeiner Form seinen Ursprung im Gedächtnissystem der IVS. Das explizite Intentionsgedächtnis (IG) oder auch als Absichtsgedächtnis bezeichnet, ist zuständig für die Speicherung und Aufrechter­halt­ung von bewussten Absichten und verkörpert das was gemeinhin als rationales (vernünftiges) Denken beschrieben wird. Im Sinne der Selbststeuerung bestehen die drei Haupt­auf­gaben in der Aufrechterhaltung einer Absicht, der Ausführungshemmung und der Initiative. Im Objekt­erkennungs­system (OES) wird vornehmlich die Wahrnehmung und das Erkennen respektive Wiedererkennen von Objekten gesteuert. Dieses System ist mit einer veränderungs­sensitiven und konfliktsensitiven Aufmerksamkeitsvariante verbunden. Tendenziell begünstigt eine starke Ausprägung dieses Denkstils eine fehlerorientierte Haltung und Einstellung.

Dem vierten kognitiven System, dem impliziten Extensionsgedächtnis (EG) werden integrative funkti­onale Aufgaben zugeschrieben. Es ist in seiner puren und rudimentären Form das absichtslose und intuitive Sein (Sein-Modus). Zudem beherbergt es grundlegende funktionale Merkmale des Selbstsys­tems. Im Gewahrsein als SELBST geschieht die Verbindung zwischen der Wahrnehmung eigener Be­dürf­nisse, Gefühle, Körperwahrnehmungen, Präferenzen und Werte etc. mit den funktionalen Kom­po­nen­ten aller vier Gedächtnis­systeme. Für ein gut integriertes SELBST und einen guten Selbstzugang leistet daher das Extensionsgedächtnis i.S.d. „Sein-Modus“ grundlegendes. Es unterstützt die an die affektive Ebene angebundene Selbststeuerung und hilft bei der Regulation von Emotionen und Stress. Dies geschieht vor allem dadurch, dass affektive Ereignisse und bewusste Prozesse durch das integrativ arbeitende SELBST in eine Verbindung gebracht werden, welche ein kongruentes Gewahr-Sein der Persönlichkeit durch balanciertes Wahrnehmen der Innen- und Außenwelt ermöglichen (vgl. Kuhl, 2010a, S. 321; adaptiert/ergänzt d.d.A.).

Persönlichkeitsentwicklung ist ein Prozess der Begegnung von Ich, Sein und Umwelt und ermöglicht so die Erfahrung von SELBST.  Das SELBST (Storch & Kuhl, 2012); (Kuhl, 2010b, S. 549), hier begrifflich differenziert und repräsentiert durch das „SEIN“, umfasst jenen un- und vorbewussten Gedächtnisanteil, der die gesamte gesammelte Lebenserfahrung repräsentiert und mit Emotionen und Bedürfnissen vernetzt ist. Der bewussten ICH-Erfahrung ist dieser Raum immer nur fragmentarisch zugänglich und aufgrund seiner Komplexität niemals vollständig erfassbar. Der Bereich des SELBST als solches, ist durch die intentionale Nutzung (IG) von Parallelverarbeitung gekennzeich­net (EG) und kann so gespeicherte Gedächt­nisinhalte mit den aktuellen Bedürfnissen und Absichten integrativ verarbeiten bzw. schnell verknüpfen (Intuition).

Das SELBST tritt als reflektiertes psychisches Phänomen an den Tag, welches seine Wurzeln im rechtshimesphärischen Sein-Modus hat.  Der Sein-Modus ist bei Kuhl (ebd.) im Makrosystem SELBST integriert beschrieben. Zur Verdeutlichung soll an dieser Stelle der Sein-Modus als ein tendenziell einseitiges Verweilen in der Abwehr negativen Affekts, i.S.  von (hedonistischer) Sensitivität heraus­gehoben werden. Das SELBST ist als ein alle Makrosysteme der PSI integrierendes Konzept dargestellt (s. Abbildung 1, unten). Im Gewahrsein als SELBST ist die dynamische Balance zwischen ICH-Modus und Sein-Modus realisiert. Dies entspricht analog dem, was z.B. beim Jonglieren erlebt werden kann. Dort vermischt sich bewusste Handlungs­steuerung mit intuitivem Handeln und Fühlen bzw. (Er)spür­en. Nur in diesem Zustand ist die Ausführung einer komplexen Auf­gabe wie das Jonglieren erst möglich. Der Selbstzu­gang, also das mehr oder weniger gleichzeitige Nutzen von gerichtetem intentionalem Gewahrsein und dem Verwenden intuitiver Kom­pe­tenzen, ermöglicht die Erfahrung und die Nutzung von dem, was bei Kuhl (ebd.) als SELBST bezeichnet wird. Der aus dem SELBST denkende und handelnde Mensch nutzt quasi intentional affektive und andere unbewusste Erfahrung als erweiternde Ressource.

Das Konstrukt Selbstzugang umschreibt psychologische und verhaltensbezogene Eigenschaften und Handlungstendenzen. Diese fokussieren vor allem empathische Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie unterstützende Handlungen und Haltungen. Dabei sind das Gespür für authentisches Verhalten, das Erkennen von Unterstützungsbedarf sowie der angemessene und angebrachte Umgang mit Stärken und Schwächen von anderen Menschen zentral. Weiters sind für einen guten Selbstzugang die Neigung Anerkennung zu geben, Verständnis zeigen, Freude und Erfolge teilen sowie ein Ressourcen-orientier­ter Umgang mit Enttäuschungen von Menschen Bestandteile eines (guten) Selbstzu­gangs. Der Selbstzugang zeigt an, inwieweit Du im Umgang mit Menschen Zugang zu deinem SELBST besitzt, welcher dich befähigt, auf eine authentische Weise sowohl die eigenen als auch die Bedürfnisse und Gefühle anderer wahrzunehmen (vgl. Kuhl & Solzbacher, 2009).

Als Selbstregulation können bewusste kognitive Prozesse bezeichnet werden die durch jene Wachsamkeit gekennzeichnet ist, welche die SEIN-Anteile des Gedächtnisses (Vor- und Unbewusstsein) als integrierte Erfahrungswelt, sowie damit verbundene Bedürfnisse, Werte und Emotionen nutzt um zu optimalen Entscheidungen und Handlungsabsichten zu gelangen (vgl. Kuhl, 2010b, S. 550).

„Jeder Mensch verfügt über diese vier mit einander interagierenden psychischen Teilsysteme […]. Das Zusammenwirken dieser Systeme bestimmt das Denken, Handeln und insbesondere auch die ‚Halt­ung‘ einer Person. Wie eine Person die Welt und andere Personen wahrnimmt, in welchen emotional­en Zuständen sie sich in diversen Alltagssituationen befindet, wie sie handelt […] und welche Haltung sie einnimmt, ist demnach abhängig vom Zusammenwirken und Funktionieren dieser Teilsysteme. Bezogen auf [berufstätige Menschen] bedeutet das, dass auch ihre spezielle‚ professionelle […] Haltung entscheidend vom Zusammenwirken und Funktionieren dieser vier psychischen Teil­systeme abhängt. Das heißt, alle vier Teilsysteme müssen gleichermaßen ausgebildet sein und dann genutzt werden, wenn die Situation es erfordert“ (Kuhl et al., 2014, S.85f)