Senioren und Arbeit

Senioren an die Arbeit

Wir Europäer kriegen kaum noch Kinder. Auf die Dauer gefährdet das unseren Wohlstand. Aber es gibt einen Ausweg.

In den letzten dreissig Jahren ist Westeuropa wirtschaftlich hinter die Vereinigten Staaten zurückgefallen. Seit 1980 liegt der Anstieg des US-Bruttoinlandsprodukts im Jahresschnitt um 0,8 Prozent über dem der EU-15-Mitgliedsstaaten. Die Gründe für die Verlangsamung des Wachstums sind vor allem in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu suchen. Doch auch demografische Trends spielen eine Rolle. Die Bevölkerung Westeuropas wird bekanntlich immer älter, die Geburtenrate liegt deutlich unter der zur Bestandserhaltung erforderlichen Zahl.

Doch die wirtschaftlichen Folgen dieser demografischen Entwicklung sind gar nicht mal düster. Denn die alternde Bevölkerung ist bemerkenswert gesund. Deshalb können die Westeuropäer länger im Berufsleben bleiben als früher. Sogar länger als ihre Altersgenossen in Amerika.

Aus dem gesunden älterwerden lassen sich ökonomische Vorteile ziehen. Dafür müssten die Westeuropäer aber ihren Lebensstil ändern. Wenn sie in den nächsten Jahren weiterhin ihren hohen Lebensstandard geniessen wollen, müssen sie sich der neuen demografischen Situation stellen. Sonst werden langsames Wachstum, Stagnation oder sogar ein Niedergang die Folge sein.

Seniorenheim Westeuropa

2005 lebten in Westeuropa 100 Millionen mehr als in den Vereinigten Staaten. Im Jahr 2030 werden es nur noch 35 Millionen mehr sein. Während die US-Bevölkerung bis dahin um etwa 65 Millionen anwachsen wird, wird die Bevölkerung Westeuropas faktisch stagnieren. Auch die Altersstrukturen werden sich verändern. 2005 gab es in praktisch allen Altersgruppen mehr Westeuropäer als Amerikaner, in der Altersgruppe der 35- bis 49-Jährigen waren es 37 Prozent mehr. Im Jahr 2030 wird es in dieser Altersgruppe fast so viele Amerikaner wie Westeuropäer geben, und bei den unter 30-Jährigen wird es deutlich mehr Amerikaner geben.

Westeuropa schlägt die Vereinigten Staaten nur in der Altersgruppe 80 plus. Schon 2005 war Westeuropa merklich grauer: Das mittlere Alter lag bei etwa 40 Jahren, gegenüber 36 Jahren in den Vereinigten Staaten. Und während das mittlere Alter der Westeuropäer bis 2030 um durchschnittlich zwei Tage pro Woche steigen und im Jahr 2030 bei knapp 47 Jahren liegen wird, wird das mittlere Alter der Amerikaner dann bei 39 Jahren liegen – deutlich unter der westeuropäischen Marke von heute. 2030 wird ein Viertel der Westeuropäer 65 Jahre oder älter sein, und es wird etwa doppelt so viele Senioren wie Kinder (unter 15 Jahren) geben. In den USA werden 2030 weniger als ein Fünftel der Einwohner Senioren sein, und die Zahl der Kinder wird weiterhin über derjenigen der Senioren liegen.

Ebenso interessant sind Trends innerhalb der Erwerbsbevölkerung. In Westeuropa wird der Anteil der Personen im «wirtschaftlich aktiven Alter» (nach allgemeiner Definition 15- bis 64-Jährige) in den nächsten Jahrzehnten sinken. Nach Schätzungen des Statistischen Bundesamts der USA wird die Erwerbsbevölkerung in Westeuropa zwischen 2010 und 2030 um mehr als 20 Millionen (über 8 Prozent) zurückgehen. In den Vereinigten Staaten wird diese Gruppe, obwohl ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung ebenfalls zurückgehen wird, im selben Zeitraum um mehr als 20 Millionen anwachsen.

Verschärfend kommt hinzu, dass sich die demografische Struktur der Erwerbsbevölkerung in Westeuropa in einer Weise verändern wird, die für die Produktivität der Region nichts Gutes verheisst. Neuerungen, Erfindungen und technologische Durchbrüche entfallen vor allem auf die Altersgruppe der 30- bis 44-Jährigen. Die überwältigende Mehrheit der Nobelpreisträger in den Bereichen Physik, Chemie, Medizin und Wirtschaftswissenschaften und die meisten namhaften Patentinhaber haben ihre grössten Leistungen in dieser Lebensphase erbracht. Die Zahl der 30- bis 44-jährigen Westeuropäer wird bis 2030 um 20 Prozent sinken – von 91 Millionen auf 72 Millionen. Obwohl der Lebensmittelpunkt von Wissensproduzenten im Internet-Zeitalter vermutlich nicht mehr so entscheidend ist, so spielt dieser Faktor auch weiterhin eine Rolle, weil auch in Zukunft alltägliche Verbesserungen direkt am Arbeitsplatz gefragt sein werden.

Keine Geburtenpolitik

All diese bevorstehenden demografischen Entwicklungen werden dem Streben der Westeuropäer nach einem fortgesetzten Wirtschaftswachstum im Wege stehen. Schönreden wird daran nicht viel ändern – ebenso wenig praktische Schritte, die heute schon beschlossen werden. Selbst mit konzertierten politischen Massnahmen wäre die Chance ausserordentlich gering, die Trends umkehren oder auch nur verlangsamen zu können.

Nach Angaben der Brüsseler Statistikbehörde Eurostat erreichte die Sterbeziffer in Westeuropa im Jahr 2005 fast schon die Geburtenrate. Der Zeitpunkt, an dem die Sterbeziffer die Geburtenrate übersteigt, ist in Westeuropa nahe – manchen Schätzungen zufolge könnte das schon 2007 der Fall sein.

Die meisten Prognosen deuten darauf hin, dass die Bevölkerung Westeuropas durch Zuwanderung bis 2030 netto ungefähr auf dem gleichen Stand bleiben wird. Offizielle Zahlen aus Amerika und der EU gehen von einer Nettoeinwanderung nach Westeuropa bis 2030 von jährlich etwa 700 000 Personen aus (etwas weniger als in den letzten zehn Jahren). Wegen des fortbestehenden Missverhältnisses von Geburten und Todesfällen würden aber selbst diese Zuwanderer den unausweichlichen Bevölkerungsrückgang nur aufschieben.

Auch wenn diese Prognosen nur Prognosen sind, die man zerpflücken und anzweifeln kann, so zeigen sie doch, wie stabil einige demografische Trends sein werden. Man nehme nur die Geburtenrate in Westeuropa.

2004 lag die Fertilität aller gebärfähigen Frauen in der EU-15 um 12 Prozent unter derjenigen von Frauen des Jahrgangs 1965, die also kurz vor Erreichen des vierzigsten Lebensjahrs standen. Diese Diskrepanz könnte unter anderem darauf verweisen, dass westeuropäische Frauen den Zeitpunkt ihrer Mutterschaft immer weiter hinausschieben. Da in den letzten Jahrzehnten der Anteil von unter 50-jährigen Frauen, die heiraten, dramatisch gesunken und der Anteil der verheirateten Frauen, die sich scheiden lassen, dramatisch gestiegen ist, wird die durchschnittliche westeuropäische Familie tendenziell kleiner werden als noch vor ein, zwei Jahrzehnten. überdies ist es sehr schwierig und kostspielig, durch staatliche Anreize eine dauerhafte und signifikante Steigerung der Geburtenrate zu erreichen. Entsprechende Massnahmen haben langfristig meist sehr wenig bewirkt. Zwei französische Wissenschaftler haben kürzlich dargelegt, dass die Fruchtbarkeitsrate in Frankreich durch staatliche Förderung in Milliardenhöhe nur um 0,1 Geburten pro Frau (gerechnet auf die gesamte Lebenszeit) erhöht würde.

Auch hinsichtlich der Zuwanderung hat Westeuropa weniger Optionen, als man zunächst annehmen würde. Einerseits wäre eine signifikante Verringerung der Nettozuwanderung unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten töricht, da Bevölkerungsrückgang und überalterung durch die Einwanderer verlangsamt werden. Ohne Einwanderung würde laut Eurostat die Gesamtbevölkerungszahl der EU-15 im Jahr 2030 um etwa 27 Millionen unter den gegenwärtigen Prognosen liegen, und fast 20 Millionen dieses Verlustes wären Berufstätige. Andererseits könnte eine Zunahme der Einwanderung problematisch sein, da Westeuropa noch keine allgemein praktikable Formel entwickelt hat, wie man aus allen Einwanderern loyale und produktive Staatsbürger macht. Die vielen Erfolgsgeschichten von Immigranten sollen damit keineswegs geleugnet werden. Auch wenn in den Medien wenig darüber berichtet wird, wie entschlossen die allermeisten Einwanderer um Integration in ihre neue Heimat bemüht sind.

Alt, aber sehr gesund

Westeuropa hat jedoch einen eindeutigen, riesigen demografischen Vorteil gegenüber den Vereinigten Staaten: Seine Bevölkerung ist zwar relativ alt, aber auch bemerkenswert gesund. So gesund wie noch nie zuvor.

Dieser Faktor ist wichtig für die Konkurrenzfähigkeit, da Wachstum heutzutage eher auf menschlichen als auf natürlichen Ressourcen beruht. Gesundheit verbessert nicht nur die körperliche Leistungsfähigkeit, sie erleichtert auch den Erwerb von Wissen und Kompetenzen, die sich im Informationszeitalter bezahlt machen. Man kann sagen: Gesundheit gleich Wohlstand.

Wenngleich Mortalitätsraten nicht unbedingt auf mangelhafte Gesundheit der Lebenden hinweisen, so ist Langlebigkeit in der Regel ein guter Indikator der allgemeinen Gesundheit und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einer Population. Jedes zusätzliche Jahr Lebenserwartung entspricht einer Steigerung des Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukts um etwa 7 Prozent. Dieses Verhältnis zwischen Gesundheit und ökonomischem Potenzial ist äusserst komplex, aber die positive Korrelation ist in vielen Ländern zu einem bestimmten Zeitpunkt, aber auch in einem Land über einen längeren Zeitraum hinweg beobachtet worden.

Für die Westeuropäer sind Langlebigkeit und Gesundheit genau die Faktoren, die ihnen einen Vorteil gegenüber der übrigen Welt (einschliesslich der Vereinigten Staaten) verschaffen. Die Lebenserwartung in den USA liegt etwa ein Jahr unter derjenigen in Westeuropa und drei bis vier Jahre unter derjenigen in den reichsten (und gesündesten) Ländern Westeuropas, etwa Norwegen und der Schweiz. 2003 lag die Lebenserwartung amerikanischer Männer bei 74,8 Jahren, verglichen mit 76,0 Jahren in der EU-15; bei Amerikanerinnen betrug die Lebenserwartung 80,1 Jahre, bei Westeuropäerinnen 81,7 Jahre. In Westeuropa hatten nur portugiesische Männer und Däninnen eine geringere Lebenserwartung als ihre amerikanischen Geschlechtsgenossen.

Ihre Gesundheit verschafft den Westeuropäern wichtige Wettbewerbsvorteile. Nach den neuesten verfügbaren Daten hatte ein 20-jähriger Amerikaner im Jahr 2002 ein 18-prozentiges Risiko, seinen 65. Geburtstag nicht zu erleben – bei einem gleichaltrigen Deutschen lag dieses Risiko bei 14 Prozent, bei einem gleichaltrigen Italiener bei 12 Prozent. Solche Unterschiede in der Lebenserwartung wirken sich positiv auf das Wirtschaftspotenzial eines Landes aus, nicht zuletzt, weil Langlebigkeit die Kosten-Nutzen-Rechnung bezüglich einer eventuellen höheren Schulbildung entscheidend beeinflusst: Die Aussicht, länger zu leben, ermutigt eher zu Investitionen in Bildung und trägt daher zu höherer Produktivität bei.

Ein weiterer wirtschaftlicher Vorteil eines gesunden Alterns besteht darin, dass in einer Gesellschaft leistungsfähigere Senioren leben. Der Gewinn besteht nun nicht darin, Urgrosseltern zur Arbeit zu schicken, sondern vor allem in einer grösseren Leistungsfähigkeit von Menschen in den Fünfzigern und Sechzigern. Die Generation der Westeuropäer, die gegenwärtig zwischen 50 und 74 Jahre alt sind, ist körperlich fitter und besser ausgebildet, als es Generationen dieser Altersgruppe in Westeuropa je waren. Im Laufe des nächsten Vierteljahrhunderts werden sich Gesundheit und Bildungsstand ähnlicher Kohorten noch weiter verbessern – bei gleichzeitiger Verbesserung der allgemeinen Arbeitsbedingungen in der westeuropäischen Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft. All das dürfte zu einer wachsenden wirtschaftlichen Aktivität unter älteren Westeuropäern beitragen.

Westeuropa muss sich also fragen, wie es die Chancen, die sich aus einem gesunden Altern und einer längeren Lebensarbeitszeit ergeben, wahrnehmen will. Vermutlich wird man die Berufstätigen dazu anhalten, länger zu arbeiten – die heutige Generation bis in die Sechziger, spätere Generationen vielleicht sogar bis in die Siebziger. Daraus würde sich ein Anstieg der allgemeinen Kaufkraft ergeben, die Gesellschaft würde wohlhabender, es ergäben sich mehr Möglichkeiten, Geld zu sparen und anzulegen, was langfristig wiederum das Wachstum beschleunigen würde. überdies sind die Alternativen wenig attraktiv. Ohne verlängerte Lebensarbeitszeit müssten, um ein ausgeglichenes Verhältnis von Einkommen und Konsum zu erreichen, entweder Konsum oder Sparen oder Investitionen eingeschränkt werden, oder die älteren müssten ihre Lebenserwartung zurückschrauben. Das Potenzial der Gesundheitsexplosion in Europa vollständig zu nutzen – das ist der Schlüssel zu einer weiteren Stärkung von Wohlstand und Entwicklung dieser Region.

Fertig mit der Dolce Vita

In den letzten dreissig Jahren haben Westeuropäer ihre gestiegene Lebenserwartung – und noch viel mehr – ausschliesslich unter dem Aspekt der Freizeit gesehen. Das durchschnittliche Renteneintrittsalter ist gesunken. In Frankreich stieg zwischen 1960 und der Jahrtausendwende die Lebenserwartung von Männern um etwa acht Jahre, während das Renteneintrittsalter um etwa sieben Jahre zurückging. Zugegeben, Frankreich ist ein Extrembeispiel, aber der ultimative lange Urlaub – das Rentenalter – ist überall in Westeuropa sehr viel länger geworden. Nie zuvor sind ältere Europäer so gesund gewesen, und nie zuvor haben sie so wenig gearbeitet. Nach Angaben der OECD stieg die erwartete durchschnittliche Rentenbezugsdauer in Deutschland zwischen 1970 und 2004 um etwa neun und in Spanien um etwa zehn Jahre. In einigen westeuropäischen Ländern verdoppelte sich die Dauer des Rentnerdaseins.

Mit dieser deutlichen Steigerung der Rentenbezugsdauer geht eine deutliche Zunahme der Zahl derjenigen einher, die vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) stand 2005 in Griechenland nur die Hälfte aller Endfünfziger im Erwerbsleben. In österreich war 2004 nicht einmal jeder achte 60-Jährige noch berufstätig. In Dänemark tauchen über 66-Jährige gar nicht mehr in der Arbeitsstatistik auf. Grund für die enorme Verlängerung des Ruhestands ist nicht nur die bessere gesundheitliche Verfassung der älteren, sondern auch der viel zu frühzeitige Ausstieg vieler älterer aus dem Berufsleben.

In Westeuropa kommt dieser Trend zu einem besonders ungünstigen Zeitpunkt. Laut Prognosen der OECD wird – bei Fortdauer anderer Trends – die Zahl der Erwerbstätigen in der EU zwischen 2000 und 2030 jährlich um etwa 0,2 Prozent zurückgehen, und die Kohorte der über 50-Jährigen wird der einzige wachsende Arbeitskräftepool sein. Während die Zahl der Westeuropäer in der Altersgruppe 15 bis 49 zwischen 2005 und 2030 um etwa 16 Prozent zurückgehen wird, dürfte die Altersgruppe 55 bis 64 um fast 25 Prozent, die Altersgruppe 65 bis 74 um knapp 40 Prozent anwachsen. Wenn es Westeuropa nur gelänge, einen Teil der älteren wieder in den Arbeitsmarkt zurückzuholen, könnte der gegenwärtig rückläufige Trend der Beschäftigtenzahl nicht nur aufgehalten, sondern sogar umgekehrt werden. Würden ältere Westeuropäer so lange arbeiten wie ihre wirtschaftlich aktivsten Altersgenossen in OECD-Staaten (zum Beispiel Japan) das bereits tun, würde die Zahl der Beschäftigten in Europa sogar steigen. 2030 könnte sie dann sogar um 26 Prozent über der gegenwärtig avisierten Zahl liegen.

An dieser Tatsache kommt Westeuropa nicht vorbei, wenn es seinen Wohlstand und seine Konkurrenzfähigkeit wahren will. Eine solche Expansion des Arbeitskräfteangebots hätte grossen Einfluss auf das westeuropäische Wirtschaftswachstum in den nächsten Dekaden. Es könnte den Unterschied zwischen Stagnation und Aufschwung bedeuten. Gewiss, manche ältere Arbeitnehmer könnten es nicht in jedem Fall mit ihren jüngeren Kollegen aufnehmen, zumal in Jobs, in denen es auf Kooperation, rasche Auffassungsgabe und technisches Knowhow ankommt. Trotzdem können ältere Bürger einen wesentlichen Beitrag zu Wohlstand und Konkurrenzfähigkeit ihrer Gesellschaften leisten. Wenn sie ihre Gesundheit als zusätzlichen Aktivposten einbrächten, wäre das ein Gewinn für sie selbst, für die jüngeren und die noch ungeborenen Europäer.

Länger leben im Wohlstand

ältere Leute zu veranlassen, im Erwerbsleben zu bleiben, ist naheliegend und unabdingbar. Aber es wäre nur ein Schritt auf einem langen, gewundenen Weg. In den meisten westeuropäischen Staaten ist es teuer für Arbeitgeber, Arbeitskräfte zu entlassen und neue Mitarbeiter einzustellen. Besonders schwierig ist die Situation für potenzielle älte re Arbeitnehmer. Sie gelten als Profitkiller, da ihnen vertraglich Leistungen zustehen, deren Wert weit über ihrer eigenen Produktivität liegt. Dass viele ältere Europäer vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden, hat nicht zuletzt mit der Steuerbelastung und anderen abschreckenden Bestimmungen zu tun. In weiten Teilen Westeuropas müssen Beschäftigte über 50, die weiterarbeiten wollen, deutliche Einkommenseinbussen hinnehmen. In Portugal sind 50 Prozent des Altersruhegelds zu versteuern, in Frankreich über 50 Prozent, in Belgien über 60 Prozent, in Luxemburg unglaubliche 85 Prozent.

Auch glauben viele Westeuropäer, ausgehend von einer Art Nullsummentheorie, dass ein Arbeitsplatz, der einem älteren Arbeitnehmer angeboten wird, einem jungen weggenommen wird. Sie übersehen dabei, dass jede produktive Tätigkeit mehr Wohlstand, mehr Nachfrage und mehr Jobs generiert. Wenn Westeuropa von der steigenden Zahl älterer Arbeitnehmer profitieren will, müssen die Arbeitsmärkte deutlich flexibler und wirtschaftlich attraktiver werden, als sie es heute sind. Bei weniger komplizierten Vorschriften und geringeren Lohnnebenkosten wäre es für potenzielle Arbeitgeber attraktiver und weniger riskant, Arbeitskräfte, auch ältere, einzustellen. Im Rahmen einer umfassenden Rationalisierung des westeuropäischen Arbeitsmarkts wäre es auch vernünftig, zu einem Rentensystem zu kommen, das eine höhere Eigenbeteiligung bei der Altersversorgung vorsieht.

Im Bildungssektor steht Westeuropa vor einer qualitativ neuen Herausforderung – trotz überalterung muss das technische Leistungsniveau gesteigert werden. Obwohl die Region vermutlich bald die bestausgebildeten älteren Arbeitnehmer haben wird, die sie je hatte, dürfen Kenntnisse und Fähigkeiten in einer sich rasant weiterentwickelnden Wissensgesellschaft nicht stagnieren. Sinnvoll wären gezielte Strategien zur ständigen Verbesserung der Qualifikation aller Arbeitnehmer, also auch der älteren.

Investieren in die Gesundheit

Und schliesslich das Thema Gesundheit. Die medizinische Versorgung verschlingt schon jetzt einen Grossteil der gesellschaftlichen Kosten in Westeuropa. Bei deutlich steigender Lebenserwartung werden auch diese Aufwendungen ansteigen, vielleicht sogar noch schneller als bislang. Die verbreitete Sorge, die medizinische Versorgung sei bald nicht mehr finanzierbar, ist jedoch unangebracht. In Wirtschaften, die in erster Linie auf menschlichen Ressourcen und Humankapital basieren, müssen die Aufwendungen im Gesundheitswesen als Investition und unter dem Aspekt des ökonomischen Werts der Gesundheit betrachtet werden. Der Gesundheitssektor und die medizinische Forschung sollten als Stützen einer Wirtschaft gesehen werden, die zunehmend auf eine gesunde Erwerbsbevölkerung angewiesen ist. Westeuropa muss auch weiter in diesen Bereich investieren, wenn es seinen Vorteil nicht einbüssen will.

In der Medizin, wie in anderen Wirtschaftsbereichen, könnte durch Förderung von Forschung und Innovation ein Qualitätsniveau gesichert werden, das auch später bezahlbar bleibt. Mehr Investitionen im Gesundheitssektor zu fordern heisst aber nicht, automatisch jede politische Entscheidung, jedes Projekt, jede Massnahme zu billigen. Jedes einzelne Element muss für sich beurteilt werden. Angesichts der Wettbewerbsvorteile, die sich aus dem guten Gesundheitszustand der älteren Westeuropäer ergeben, wird man aber erkennen müssen, dass Investitionen im Gesundheitssektor ausserordentlich lohnend sein können.

Wird Westeuropa in den nächsten Jahrzehnten immer mehr Terrain verlieren? Der demografische Druck ist zweifellos gross, und ohne fantasievolle Antworten wird die Zukunft des Kontinents eher düster aussehen. Westeuropa steht nicht zwangsläufig vor einem relativen wirtschaftlichen Niedergang. Die Bevölkerung wird zwar zunehmend älter, aber der Kontinent muss kein grandioses Seniorenheim oder ein kultiviertes, aber verblassendes Freiluftmuseum werden. Es gibt eine Alternative.

Zitat verfügbar unter:  http://dasmagazin.ch/index.php/senioren-an-die-arbeit/ [Datum des Zugriffs: 20.10.09]

10.06.2007 von Nicholas Eberstadt und Hans Gr.

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