image_pdfimage_print

(Redaktionsgruppe A)

 Am Schulstandort 1050 Wien, Gassergasse 44 befindet sich in einem modern renovierten, historischen Gebäude die NMS / Schulzentrum Gassergasse. Hier lernen und lehren 250 Schüler*innen und 30 Lehrer*innen in 11 Klassen und auf jeder Schulstufe gibt es eine Integrationsklasse. Die Schüler*innen kommen hauptsächlich aus dem 5. Bezirk, sowie auch aus den umliegenden Bezirken 4, 6, 10 und 12. Durch die zentrale Lage ist eine gute Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz gegeben und die Schule gut erreichbar. Kinder von vielen verschiedenen Herkunftsländern, diversen Kulturkreisen und 30 verschiedenen Muttersprachen bereichern den Schulalltag. Der Unterricht findet nach dem Motto: „Entspannt lernen – bewegt leben“ statt. Die Schulschwerpunkte sind: Informatik, e-Learning mit Notebook, Integrationsklassen, eine Klasse mit Englisch-Schwerpunkt und die Bewegte Klasse 

  Heute finden die Schüler/innen in der neuen Mittelschule Gassergasse ein hochqualitatives Schulangebot, bestmögliche Voraussetzungen zum Erwerb jener Fähigkeiten und Fertigkeiten, die es im späteren Leben braucht. (https://nms-gassergasse44.schule.wien.at/) Doch das war nicht immer so, 2016 machte die Direktorin Andrea Walach im Kurier mit einem Hilferuf auf die prekäre Situation an ihrer Schule auf sich Aufmerksam.  „Meine Schüler*innen haben zu 98 Prozent keine deutsche Muttersprache“, so Walach. „Die restlichen zwei Prozent kommen aus schwierigen Verhältnissen und benötigen Sozialarbeiterhilfe. Unsere Lehrer*innen bringen eine exzellente Leistung, sind aber schlichtweg überfordert.“ Die Aussage, dass ein Drittel der Absolventen direkt zum AMS wechseln und praktisch keine Chance haben eine eigenständige Existenz aufzubauen, sorgte für Bewegung in der Schuldebatte.

  Dieses Thema wurde im Rahmen des Projekts Schule fürs Leben, das 2014 vom ORF ins Leben gerufen wurde, aufgearbeitet. Ursprünglich war das Ziel, die Mittelschule Gassergasse und die AHS Rahlstraße ein halbes Jahr lang mit diesem Projekt zu begleiten und den Schüler*innen beider Schulen Einblicke in den jeweils anderen Schulalltag zu bieten. Es wurde versucht, Jugendlichen Entscheidungen zu erleichtern, sie möglichst individuell zu fördern und auch nach Abschluss des vom ORF begleiteten Zeitraums weiter zu unterstützen. Auf diese Weise wurde durch ein „Buddy-System“, bei dem jeweils ein*e Schüler*in der beiden Schulen gemeinsam lernten und miteinander Zeit verbrachten, die Integration gestärkt und Schüler*innen mit Migrationshintergrund geholfen im österreichischen Schulsystem zu überleben und ihren eigenen Weg möglichst erfolgreich einzuschlagen.

  In Folge des Projekts wurde die Mittelschule Gassergasse zu einem Schulversuch, und die Situation für Kinder mit Migrationshintergrund an dieser Schule änderten sich, wie oben beschrieben. Aber auch das Projekt Schule fürs Leben selbst bleibt weiter bestehen, ein Verein organisiert beispielsweise Theaterprojekte zur Sprachförderung oder Musikförderung durch Rhythmus, Stimme und Bewegung. An diesen kleineren Projekten können Klassengruppen oder gesamte Klassenverbände teilnehmen, wobei immer ein Augenmerk auf einer möglichst individuellen Förderung liegt. Es wird in diesem Rahmen versucht, Begabungen und Berufswünsche offen zu legen und diese gezielt fördern. Es wird sich dabei die Tatsache zunutze gemacht, dass das gemeinsame Tun Neugier und den Drang zum (Selbst-) Erforschen und Entdecken fördert, so auf der offiziellen Website des Projekts Schule fürs Leben beschrieben. Die Ziele und Leitgedanken dieses Projekts werden in zehn sogenannten “Geboten für die Neue Schule” festgehalten (http://www.schulefuersleben.at/10-gebote-der-neuen-schule). Aus einem Experiment für Fernsehreportagen hat sich also ein nachhaltiges Bildungsprojekt entwickelt. 

 Wie bereits angedeutet stehen im Zentrum der Entwicklungen am Schulstandort Gassergasse die Ambitionen einer Akteurin, in diesem Fall einer Direktorin, innerhalb des Bildungssystems, welche auf eine prekäre Situation aufmerksam machte und gemeinsam mit dem Lehrkörper bestrebt Veränderungen herbeiführte. Durch das öffentliche Interesse wurden zusätzlich “von außen” Hilfestellungen angeboten. Fragen die sich an diesem Punkt stellen lassen sind: Was kann aus dem Schulversuch am Standort Gassergasse gelernt werden? Welche Schlüsse für die Strukturierung des Schulsystems lassen die Ergebnisse zu? Der im Beitrag des ORF sprechende Bildungswissenschaftler Stefan Hopmann plädiert auf die Notwendigkeit zur Freiheit der einzelnen Schulen, sich selbst in einer Form zu gestalten, welche den Schüler*innen notwendige Hilfestellungen bzw. einen angepassten Zugang zu Bildungsinhalten ermöglicht. An selber Stelle wird die Übernahme funktionierender Bildungssysteme anderer Länder bzw. eine weitere Ausdifferenzierung des österreichischen Bildungssystems verneint. Hopmann spricht sich für eine größere Flexibilität innerhalb des bestehenden Systems aus. Wie ist es um die Freiräume im österreichischen Bildungssystem beschaffen? 

Im Zuge der Bildungsreform aus dem Jahr 2017 wurde ein “Autonomiepaket” bewilligt, welches dem Plädoyer Hopmanns nachkommt. Um aus den offiziell angeschlagenen Zielformulierungen des Bildungsministeriums zu zitieren, soll unter anderem eine “Maximale pädagogische Gestaltungsfreiheit am einzelnen Schulstandort zur Erstellung innovativer Bildungsangebote bei gleichzeitiger Planungs- und Ressourcensicherheit” (https://www.bmbwf.gv.at/Themen/schule/zrp/bilref.html) gewährleistet werden. Ohne das 84-seitige Handbuch zum Autonomiepaket durchzustudieren, kann vermutet werden, dass gewisse Freiheiten für Schulen im Bildungssystem existieren, wie der Schulversuch Gassergasse nahelegt, welche jedoch nur an wenigen Stellen umfänglich genutzt werden. Dies wirft nun wiederum die Frage auf: Warum ist dies der Fall?   

 Vermutet kann werden, dass das Paket noch recht “jung” ist und rund vier Jahre nicht ausreichen, um schulintern größere Umstrukturierungen vorzunehmen. Hinterfragt kann ebenfalls werden, wie es um die Fluidität der eventuell benötigten Gelder beschaffen ist (das Argument “Wir bekommen kein Geld” ist seitens der Schulleitungen durchaus geläufig). Wobei zu erwähnen sei, dass viele strukturelle Veränderungen ohne finanzielle Mehraufwände zu bewerkstelligen wären. Ein Gebäude, Lehrpersonal sowie Schüler*innen für einen Unterricht sind als vorausgesetzt anzunehmen – Gegebenheiten, welche bereits einen gewissen Spielraum zulassen würden. Weitere Hinterfragungen können auf das Wissen der Akteure und Akteurinnen im System abzielen. Sind sich Lehrpersonen bzw. Schulleiter*innen ihrer Möglichkeiten bewusst und eventuell noch wichtiger – wollen sie diese wahrnehmen? Existieren überhaupt konkrete Ideen und Vorstellungen, wie diese Umstrukturierungen beschaffen sein könnten? An dieser Stelle kann auch an Fortbildungsstellen adressiert werden. Bildungsangebote für Lehr- und Leitungspersonal hinsichtlich alternativer Zugänge zu Schule und Lernen können das Bewusstsein um Notwendigkeit, sowie das vermehrte Gefühl einer Sicherheit im Hinblick auf eine Umsetzung selbiger steigern. Vor dem dargelegten Hintergrund treten Individuen innerhalb des Systems in den Vordergrund und werden gefragt: Wollen wir? 

 Trotzdem muss auch bedacht werden, dass nicht immer große Veränderungen, was die räumlichen Ausstattungen, die gesamte Unterrichtsdurchführung und das Leitbild der Schule ausmacht, nötig sind, um die Lernenden in Brennpunktschulen vielseitig und nachhaltig zu unterrichten. Neben dem Beispiel der Brennpunktschule in der Gassergasse, der es mittlerweile gut gelingt, Schüler*innen mit Migrationshintergrund ein breitflächiges und effektives Bildungsangebot darzulegen, muss auch gesagt werden, dass oft schlicht und einfache Handlungsstrategien auf Beziehungs-, Unterrichts- und Schulebene ausreichen, jede*n Schüler*in optimal zu integrieren und zu fördern. Sehr wichtig ist, dass vonseiten der Lehrpersonen Toleranz und Respekt gegenüber den Kindern und Jugendlichen aller Kulturen, Sprachen und Ländern gezeigt wird – was auch den Mitschüler*innen als Anreiz und zum Vorbild dienen soll. Außerdem ist es wichtig, dass die Lehrer-Schüler-Beziehung von Vertrauen und Wertschätzung geprägt ist, wo sich die Lernenden jederzeit an ihre*n Lehrer*in wenden können, um etwaige Probleme neutral und in sensiblen Umgang zu klären und zu bereden. Was die Ebene des Unterrichts betrifft, so können in Fächern wie Geographie und Wirtschaftskunde oder Geschichte und politische Bildung gesellschaftspolitische und verschiedene kulturelle Themen aufgegriffen werden, um das Interesse und die Toleranz der jungen Menschen anderen Kulturen gegenüber zu steigern. Außerdem wird auf eine Klassen-Regeln unterworfene Unterrichtsatmosphäre Wert gelegt. Positiv ausschlaggebend für eine Förderung von Kindern anderer Kulturen können auch Maßnahmen auf Schulebene sein. Zum Beispiel die Durchführung von Veranstaltungen, an denen verschiedene Kulturen präsentiert werden, oder das Aufhängen von Plakaten mit verschiedensprachigen Grußformeln oder multikulturellen Merksätzen können zu einer guten Integration und einem lernfördernden Schulklima beitragen. Dem ist noch hinzuzufügen, dass neben dem Deutschunterricht auch Muttersprachenunterricht der unterschiedlichen Kulturen angeboten wird. Nebenbei bemerkt heißt es, dass als Grundlage für einen effizienten Fremdsprachenunterricht ausreichenden Kenntnisse in der Muttersprache nötig sind. 

Neben all den Maßnahmen ist jedoch auch ein gesellschaftliches und bildungspolitisches Umdenken gefragt. Die Situation in Brennpunktschulen soll entschärft werden. Noch besser wäre, mit politischen Rahmenbedingungen eine Verhinderung der Entstehung von Brennpunktschulen, die durch die Segregation oft eine Zweiklassengesellschaft erzeugen, zu erreichen. “Es würde verstärkt zu einer Integration und Verbesserung der Deutschkenntnisse auf Seite der Schüler*innen mit Migrationshintergrund führen und das Leistungsgefälle zwischen den Schulen reduzieren. Gleichzeitig profitieren Schüler*innen ohne Migrationshintergrund von den vielen Vorteilen, die eine kulturelle Diversität mit sich bringt, wie die Entwicklung einer weltoffenen Einstellung, das Kennenlernen neuer Traditionen und Bräuche und eine generelle Horizonterweiterung.” (Moritz, 2021 S. 76) 

Solange jedoch Brennpunktschulen als solche noch existieren, ist es auch bereits ein großartiger Schritt in diesem Bereich, sich an oben genannten Beispielen und Vorschlägen ein Vorbild zu nehmen oder es der NMS Gassergasse gleich zu machen. So können die Bildungssituation für die lernenden Kinder optimiert und in Folge ihre beruflichen Chancen verbessert werden.

(ein gemeinsamer Beitrag von Michaela Rudinger, Elena Schüssling, Simon Elias Unteregger und Gloria Gruber – Redaktionsgruppe A)

Literaturverzeichnis:

Metzger, I. (2016, 23. Oktober). Direktorin Walach “Warten seit 15 Jahren auf Autonomie”

https://kurier.at/politik/inland/schulautonomie-paket-im-check-direktorin-walach-warten-seit-15-jahren-auf-autonomie/226.769.526

Schule fürs Leben – Bildungspatenschaften für Jung und Alt. Entstehungsgeschichte. http://www.schulefuersleben.at/ueber-den-verein/entstehungsgeschichte (zugegriffen am 30.12.2021).

Schule fürs Leben – BIldungspatenschaften für Jung und Alt. Die 10 Gebote der Neuen Schule. http://www.schulefuersleben.at/10-gebote-der-neuen-schule (zugegriffen am 30.12.2021).

Bildungsreform 2017 (Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung): Ziele der Bildungsreform. https://www.bmbwf.gv.at/Themen/schule/zrp/bilref.html (zugegriffen am 7.01.2021) 

Moritz, Marie (2021); Masterarbeit Universität Graz: Unterrichtsstörungen in Form von interkulturellen Konfliktsituationen in Klassen der Sekundarstufe 1.  https://unipub.uni-graz.at/obvugrhs/content/titleinfo/6714715/full.pdf (zugegriffen am 8. 01. 2021)

Weiterführende Online-Verweise: 

Link zum Beitrag des ORF: https://www.youtube.com/watch?v=mLetHMQfrN8

Link zum Download des Handbuchs zur Erweiterung der Schulautonomie (2017): https://www.bmbwf.gv.at/Themen/schule/zrp/bilref/handbuch_schulautonomie.html

Leave a Comment

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.