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Mit dem sechsten und letzten Artikel dieser kurzen Beitragsreihe haben wir den anfangs angesprochenen thematischen Bogen beinah zu Ende gespannt. Wir sind von einer ganz allgemeinen Definition von Bildungssystemen ausgegangen, haben uns generelle Ziele von Bildungsinstitutionen angesehen und haben einen Blick auf die Schulhistorie geworfen. Dabei ist uns klar geworden, wie eng Schule mit gesellschaftlich verankerten Ansichten verwoben ist. Anhand des Leistungsprinzips und der direkten Verknüpfung gesellschaftlicher Subsysteme – zu denen auch das Bildungssystem gehört – zu einer Trias wurde ersichtlich, wie Bildung durch ökonomische Prozesse bedingt wird und wie daraus letztlich Gründe für aktuelle Bildungsentwicklungen (wie beispielsweise Standardisierung und Kontrollbestreben) abgeleitet werden können.

Es muss dabei zu den Standards aber gesagt werden, dass diese nicht per se schlecht sind. Die Verwendung von Standards und Kompetenzbegriffen ist sogar unvermeidbar. Die Frage ist nur, wie damit umgegangen wird. Eine strengere Ergebnisorientierung führt konsequenterweise zu Normierung und Verengung. Die Gefahr besteht, dass mit der Standardisierung von Bildungsprozessen, welche immer auch Persönlichkeiten formen, letztlich auch die Personen standardisiert werden. Lerninhalte werden möglicherweise nur noch unter dem Eindruck vorausberechenbarer Kompetenzen wahrgenommen und auf das Überprüfbare zurechtgeschnitten.

Welchen Grundstein legen wir in der Schule von heute?

Es gilt, mit der Formung von Menschen durch Bildungsarbeit verantwortungsvoll umzugehen. Dazu gehört meiner Meinung nach in jedem Fall zu erkennen, welche Mechanismen wirken, wenn eine Gesellschaft entscheidet, welche Bildungsinhalte als wichtig, welche als unwichtig erachtet werden und folglich nicht ihren Weg in die Bildungsinstitutionen finden. Aktuelle, gesellschaftspolitische Wertvorstellungen formen die Schule von heute. Die Schule von heute formt den Menschen von morgen. Und in dessen Händen liegt nichts Geringeres, als die Zukunft dieser Welt. Dessen Hände werden die Welt nach einer Vorstellung gestalten, für welche wir heute in den Schulen den Grundstein legen. Dabei sehe ich verallgemeinernd zwei Szenarien: Ist diese Grundsteinlegung geprägt von Nachhaltigkeit und sorgsamem Umgang mit andern, so sind dies die besten Voraussetzungen einer von Menschlichkeit, Frieden und Miteinander geprägten Zukunft. Doch wenn politische Polemik und wirtschaftliche Kurzsichtigkeit im Sinne eines Anstrebens unendlichen Wachstums (ein Umstand, der schon rein mathematisch keine Zukunft hat) diesen Grundstein prägen, so weiß ich nicht, wo hier der Mensch selbst bleibt. Dann wendet sich das Konstrukt „Gesellschaft“, dessen Aufgabe ursprünglich die Erleichterung unserer Existenzbewältigung war, plötzlich gegen uns. Es entsteht eine Polarität in unserem Miteinander, das sich in ein „Gegeneinander“ wandelt, es vertieft die Kluft zwischen uns und „den anderen“. Und damit sind wir mitten im Thema „Diversität und Inklusion“: Finden schulische Entwicklungen in eine solche Richtung statt, so verarmt der Nährboden für Vielfalt und das „Anderssein“ wird ausgegrenzt, anstatt darin ein Potenzial der gegenseitigen Bereicherung zu sehen. Besonders relevant hinsichtlich dieser Diskussion scheint mir die bereits angesprochene Wandlung der allumfassenden Bildung hin zur Erzeugung von Qualifikationen in wirtschaftlichem Interesse. Marktanaloge Strukturen in Form von Kotrolle durch Output-Orientierungen und Kosten-Leistungs-Kalküle unter Betonung ökonomischer Kriterien haben längst in unser Bildungssystem Einzug gefunden. Lässt sich eine gängige Auffassung, nach der die Wirtschaft schon seit geraumer Zeit immer weniger dem Menschen dient, sondern der Mensch der Wirtschaft, gar auch auf das Schulsystem umlegen?

Bildung wird heute zur „Ausbildung“. Während Bildung ein allumfassender, ganzheitlicher und vor allem hinsichtlich individueller Entfaltung raumgebender Begriff ist, beschreibt Ausbildung meiner Meinung nach ein Konstrukt, das durch Beschneiden der Vielseitigkeit des Bildungsbegriffs auf eine klar vorgefertigte Form entsteht. Der Output „Mensch“ – sozusagen das Werkstück dieses Formungsprozesses – passt sich am Ende an diese Form an. Es heißt, wo gehobelt wird, da fallen Späne und ich frage mich, ob diese Späne nicht vielleicht das Wertvollste sind, was wir haben – ob sie nicht genau das sind, was uns ausmacht. Ich habe einmal gelesen, dass ein guter Bildhauer immer mit der Maserung seines Steins oder seines Holzblocks arbeitet. Arbeitet er gegen die Wuchsrichtung, so droht das Werkstück zu zerbrechen. Ich denke, daran kann man sich ein Beispiel nehmen – um so jedem Menschen zu seiner eigenen, individuellen Form zu verhelfen, die ihm am besten entspricht. Das ist Vielfalt. Und darauf sollten wir in all den Bildungsdebatten unser Augenmerk richten.

 

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Literatur (sämtlicher Artikel dieser Reihe):

Bohnsack, F. (2008). Schule – Verlust oder Stärkung der Person? Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

Fend, H. (20082). Neue Theorie der Schule. Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Grimm G. (2011). Uniformierung und (Sozial-)Disziplinierung als pädagogisch-bildungs-politische Leitprinzipien bei der Grundlegung des öffentlich-staatlichen Pflichtschulwesens in Österreich im 18. Jahrhundert. In S. Sting, & V. Wakounig (Hrsg.), Bildung zwischen Standardisierung, Ausgrenzung und Anerkennung von Diversität, Band 12. (S. 101-113). Wien: LIT Verlag.

Klein, R. (2010). Fest-Stellungen: zur Entsorgung von Reflexivität durch Kultur- und Bildungsstandards. In S. Dungs (Hrsg.), & R. Klein, Standardisierung der Bildung. Zwischen Subjekt und Kultur. (S. 29-54). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Oelkers, J. (2003). Wie man Schule entwickelt. Eine bildungspolitische Analyse nach PISA. Weinheim, Basel, Berlin: Beltz Verlag.

Tauscher, A. (1968). Die Stellung des Lehrers in der Gesellschaft von heute oder Die Begegnung von Wirtschaft und Schule. In Sozial- und Wirtschaftskundliche Schriftenreihe, Heft 5. Wien: Sparkassenverlag Gesellschaft m.b.H.

Winter, F. (2006). Leistungsbewertung. Eine neue Lernkultur braucht einen anderen Umgang mit den Schülerleistungen. In J. Bennack, A. Kaiser, & R. Winkel (Hrsg.), Grundlagen der Schulpädagogik, Band 49. Stuttgard: Schneider Verlag.

Diversität im Unterricht bzw. in der Schule äußert sich auf vielen unterschiedlichen Ebenen wie Sprache, Geschlecht, Religion, kognitive Grundvoraussetzungen, ökonomische Lebenslage, ethnische sowie kulturelle Herkunft und vielen mehr. Dabei stellt eine diverse Schülerschaft besondere Ansprüche an die Lehrperson – es gilt, die Verschiedenheit der Individuen trotz systembedingter Restriktion zu bewahren, sie zu stärken und dennoch einem gemeinsamen Konsens zuzuführen. Dass dies eine idealistische Vorstellung ist, zeigt der durchschnittliche Schulalltag – der Graben zwischen Idealismus und Realismus ist ein breiter.

Die große Vielfalt an unterschiedlichen SchülerInnen erfordert eine ebenso reichhaltige Vielfalt an Unterrichtsmethoden, Themenbereichen und nicht zuletzt Bewertungssystemen. Letztere sind dabei entscheidend dafür, ob es gelingt, dieser Vielfalt trotz der Transformation der Schülerleistung in abstrakte Noten angemessen zu begegnen. Diversität in der Schule bedeutet, die Schülerin/den Schüler als Mensch mit jeweils eigener Geschichte, Voraussetzungen und Vorlieben zu erkennen. Darum ist Diversität zu allererst eine Offenheit, die bei einem selbst anfängt: Schaffe ich es als Lehrperson, mich fortwährend innerhalb der Antinomie von geforderter Bewertung auf der einen Seite und ganzheitlichem, menschenwürdigem Wahrnehmen der/des Einzelnen auf der anderen Seite zu bewegen, ohne dabei zu ermüden? Und sehe ich in der Lehrerrolle nicht nur einen Wissensvermittler und Datensammler, sondern in erster Linie auch jemanden, der jungen Menschen dabei hilft, genau das in ihnen zu finden, was sie ausmacht – auch abseits des eigenen Unterrichtsfachs?

Diversität in der Schule bedeutet für mich daher letzten Endes auch, ein besonders vielfältiges Bild von der Natur einer Lehrperson im Kopf zu haben. Das wirft die Frage auf, welche Parameter schulischen Lehrens und Lernens innerhalb der rechtlich-politisch vorgegebenen Grenzen verändert werden können, um diesen Spagat mit Erfolg bewerkstelligen zu können. Die LehrerInnenbildung stellt mit Gewissheit einen wesentlichen Ansatzpunkt dar. Doch fasst man das Blickfeld weiter, so rückt letztlich ein alles bedingender Faktor in den Fokus der Betrachtung, mit welchem jegliche Konzeptualisierung institutioneller Wissensvermittlung untrennbar verbunden ist – unsere Gesellschaft, die wir Tag für Tag mit dem Leben unserer Werte und Normen neu schaffen. Aus ihr heraus entstand einst das Konzept Schule und mit ihrer Entwicklung muss man sich in letzter Konsequenz befassen, will man Werte und Grundsätze schulischer Bildung verstehen, erklären oder weiterentwickeln. Genau dieser gesellschaftliche Aspekt von Diversität und Schule wird Inhalt der folgenden Beiträge sein.