Großer Kritik ist unser Bildungssystem ausgesetzt, sei es durch Reformen, die sich als überflüssig herausgestellt haben, bis hin zu lebensfernem Theoriewissen.
Die Herausforderung für ein Bildungssystem stellt sich insofern, als dass jeder Mensch, jede Schülerin und jeder Schüler, ein eigenes Individuum darstellt, mit je eigenen Begabungen, Stärken und Schwächen, Charismen und Fähigkeiten. Zusätzlich bleiben der familiäre Hintergrund, die möglichen außerschulischen Belastungen, etc. zu beachten, da jede Schülerin und jeder Schüler unterschiedliches mitbringt. Es ist daher nicht möglich jede Schülerin und jeden Schüler über einen Kamm zu scheren. Nicht nur systemisch muss ein Raum geschaffen sein, in welchem die Lehrperson auf die Schwächen und Stärken eingehen kann, um einer ganzheitlichen Bildung förderlich zu sein. Weiters soll die Schule relevante inhaltliche Basiskenntnisse in den Fokus nehmen und durch einen Modullehrplan mehr Raum für Entdeckungen und Entwicklungen individueller Talente bieten. Das Hauptaugenmerk derzeit liegt auf einer Ausbildung mit dem Ausblick auf Berufsleben oder weiterführende universitäre Bildung, jedoch nicht auf ein Leben im Allgemeinen. Themenfelder wie die Suche nach einem Arbeitsplatz oder einer Wohnung, sowie der Erhalt physischer und psychischer Gesundheit bleiben auf der Strecke. Hier stellt sich die Frage, welche Inhalte und in welchem Ausmaß diese in der Schule vermittelt werden sollten.
Wie soll man nun die Stärken von Schülerinnen und Schülern gezielt fördern?
Ihre Selbstverwirklichung unterstützend begleiten? Wie kann dies im Rahmen schulischer Ausbildung und Bildung geschehen?
„Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann, ne Gedichtanalyse schreiben. In 4 Sprachen“
Diesen Tweet verfasste 2015 eine Schülerin und macht damit besonders anschaulich deutlich, wo sich die Baustellen befinden. Priv.Doz. Dr. Monika Köppl-Turyna, Direktorin von EcoAusria, schreibt in einem Artikel sehr treffend: „Wer nicht verstanden hat, wie Wirtschaft funktioniert, der wird sich „dem System“ immer nur ausgeliefert fühlen.“[1] und plädiert damit für eine Wirtschaftsbildung im Rahmen der Pflichtschulzeit. Die Ambivalenz eines solchen Faches wird bereits durch den Titel klar, so lässt sich „Wirtschaft“ leicht als Neoliberalisierung der SchülerInnen auslegen.
Welche Fächer sind es, die überhaupt nicht gelehrt werden? Was fehlt für die ganzheitliche Bildung, die zu mündigen eigenständigen Menschen führt?
Ein Blick in die eigene Schulzeit wird uns unweigerlich an Momente des Schönen und auch an die des Schlechten führen. Das Gefühl von Versagen, wenn man sein erstes „nicht genügend“ unter einer Schularbeit liest, die mögliche Resignation, bis hin zu wütenden Tränen. Aber auch die Freude, wenn man ein Fach für sich entdeckt hat, und Fragen der Lehrperson bereits beantworten kann, noch bevor diese gestellt worden sind. Zweifelsfrei wird man auch Momente ganzheitlicher Bildung entdecken können, wenn man beispielsweise im Deutschunterricht einen Kartoffelacker anlegt und über das Wachstum, bis hin zum Verzehr, einen Dokumentarfilm dreht und schneidet. Es zeigt sich für mich hier die Möglichkeit den Unterricht zu nutzen, um mehr zu vermitteln als „Bildungsstandards“. Das banale Beispiel eines Kartoffelackers, die Arbeit mit Erde, das Filmen und Schneiden, das Besprechen des Filmes, sowie letztendlich das Kochen, haben einen neuen Horizont eingeführt und eine „1. Leistungsgruppe“ vom Höhenflug der Ausgezeichneten auf den Boden der Realität – zumindest ein Stück weit – heruntergebracht.
Was fördert uns zu einer Entwicklung, die einer ganzheitlichen Bildung gerecht wird? Haben wir unsere Stärken, die wir vielleicht in der Zeit der Pflichtschule schon entdeckt haben, heute auch verwirklicht oder über die Jahre vergessen?
[1] Köppl-Turyna; Monika; Wirtschaftsbildung ist kein Luxus; in: Couleur, Ausgabe 1, Frühling 2021, S. 12f.
Es werden sehr fundamentale Punkte angesprochen in deinem Blogbeitrag! Die zentralen Fragen sind zum einen Individualisierung – wie stark kann unser Schulsystem auf die Stärken und Schwächen des Individuums eingehen – und zum anderen Bildung und Realität. Ich möchte mich näher mit Letzterem befassen.
Man hört immer wieder das Argument, dass der schulische Inhalt realitätsfern sei, die Schülerinnen fürs weitere Leben nicht gut vorbereite und nur theoretisches Wissen vermittle – Grundkompetenzen und der (versucht) praktische Ansatz der Bildungsstandards hin oder her. Dies mag stimmen. Auf den ersten Blick scheint die Gedichtinterpretation oder das Berechnen von Winkeln im Einheitskreis nicht viel mit dem späteren Leben zu tun haben. Es stimmt zwar, dass man – wenn man nicht in ein spezielles Berufsfeld geht – im Alltag selten mit Trigonometrie oder chemischen Formeln konfrontiert ist. Heißt dies aber, dass es keinen Mehrwert hat, sich mit komplexeren Thematiken zu beschäftigen? Nach der oben angeführten Sichtweise sollte die Schule nur Inhalte vermitteln, die unmittelbar relevant sind fürs spätere Leben. Man vergisst aber, wie wichtig es ist, sich mit „fremden“ Themen zu beschäftigen. Auch wenn es nicht immer sinnvoll erscheint, rein kognitiv ist es wichtig, sich anzustrengen, zu lernen und komplexe Inhalte zu speichern. Ganz zu schweigen davon, dass es tatsächlich Schülerinnen gibt, die sich gerne mit Gedichten beschäftigen, oder für die es nichts Spannenderes gibt, als Vektoren im dreidimensionalen Raum zu konstruieren.
Aus deinen Ausführungen geht sehr schön hervor, dass Schule ganzheitlich bilden kann und soll. Klassische Inhalte können und dürfen nicht ganz wegfallen; andererseits ist es natürlich auch wichtig, zum Beispiel Wirtschafts- und politische Bildung zu fokussieren. Auf jeden Fall ist es dieses Thema wert, genauer rezipiert zu werden. Vor allem im bildungswissenschaftlichen Diskurs ist es spannend zu sehen, in welche Richtung sich diese Problematik entwickelt. Dein Beitrag hat – mich zumindest – schon einmal zum Nachdenken angeregt 🙂