(Annemarie Schaffer)
Der folgende Beitrag entstand u.a. in der Auseinandersetzung mit einem Kapitel des Buches ‚Die Elenden‘, erschienen 2020 im Hanser Verlag.
Anna Mayr, deutsche Journalistin und als Tochter zweier Langzeitarbeitsloser mit Hartz-IV aufgewachsen, stellt darin Beobachtungen und Überlegungen zum Umgang der Gesellschaft mit „den Arbeitslosen“ an. Dabei kann das Kapitel ‚Das Ändern der Realität. Warum das Schicksal der Arbeitslosen für alle wichtig ist‘ durchaus als Plädoyer für eine unvoreingenommene und differenzierte Wahrnehmung (nicht nur) dieser Bevölkerungsgruppe gelesen werden, auch wenn Mayr selbst in ihrem Text immer wieder der (wahrscheinlich zutiefst menschlichen) Tendenz zur Pauschalisierung unterliegt.
Ausgangspunkt aber nicht Fokus ihrer Ausführungen sind ihre eigenen Gefühle, die sie in unterschiedlichen Situationen – aber immer im Zusammenhang mit ihrer Rolle als „Aufsteigerin“ – überkommen (haben). So schreibt sie über die Traurigkeit und die Angst, die sie als Kind empfunden hat, wenn ihre Eltern nicht genug Geld für einen Schulausflug oder neue Sportkleidung hatten; sie schreibt über das Unbehagen, das sie nun als Erwachsene manchmal überkommt, wenn sie sich weder in der Welt ihrer Kindheit – die Wohnung ihrer Eltern im Plattenbau – noch in der Welt des wohlhabenden Bildungsbürgertums, in die sie „aufgestiegen“ ist, zuhause fühlt; und sie schreibt über die Wut, die manche verallgemeinerten Annahmen und Vorurteile über das Milieu ihrer Eltern in ihr aufkommen lassen.
Im Zusammenhang mit diesem Blog und der damit verbundene Lehrveranstaltung ergibt sich daraus für mich die Frage, was Schule und Unterricht dazu beitragen können, dass Menschen mit einer ähnlichen Lebensgeschichte wie Anna Mayr zumindest ein Teil dieser negativen Gefühle erspart bleiben. Dabei können die Haltung und die Einstellung, die Schüler*innen in der Schule vermittelt bzw. vorgelebt bekommen, gewiss ihren Teil dazu beitragen, dass die Erfahrung der Ausgrenzung aufgrund einer anderen – von der Gesellschaft allgemein als schlechter wahrgenommenen – sozialen Herkunft und das damit verbundene fehlende Gefühl der Zugehörigkeit möglichst klein gehalten wird. Allerdings sind für einen Ausgleich sozialer Ungleichheiten in der Schule auch und vor allem finanzielle Mittel nötig. Wenn es einem Kind nämlich, wie von Mayr beschrieben, nicht möglich ist, an einem Schulausflug teilzunehmen, weil die Familie das Geld dafür nicht aufbringen kann, hilft keine noch so unvoreingenommene und aufgeschlossene Haltung gegen die Ausgrenzung von einer gemeinsamen Erfahrung im Klassenverband. Dasselbe gilt für das zweite Beispiel, das im Text angeführt wird: Kann man sich kein passendes Sportgewand leisten, setzt man sich dadurch unfreiwillig rein optisch von seinen Klassenkamerad*innen ab, was in einem Alter, in dem der Turnunterricht für manche aufgrund von körperlichen Veränderungen ohnehin schon keine ganz unproblematische Angelegenheit ist, eine weitere psychische Belastung für eine*n Schüler*in darstellt.
Im Angesicht solcher Probleme kann eine einzelne Lehrperson allein wenig ausrichten. Da sind Klassen- und Schulgemeinschaft, Gesellschaft und Politik gefragt. Allerdings ist leider festzustellen, dass gerade in der Politik dem Voranbringen parteipolitischer Projekte höhere Priorität eingeräumt wird als der tatsächlichen Unterstützung von sozial schwächeren Kindern. Das zeigt sich beispielsweise auch in einem Interview, das die Tageszeitung Der Standard 2016 mit dem Bildungswissenschafter Stefan Hopann geführt hat. Darin geht es um die Bestrebungen der damaligen Unterrichtsministerin die Ganztagsschule in Österreich auszubauen, um der Benachteiligung sozial benachteiligter Schüler*innen entgegenzuwirken. Hopmann, der damals auch als Berater von der Regierung herangezogen worden war, kritisierte dieses Vorhaben als „hinausgeworfenes Geld“. Denn auf seinen Einwand, dass das Modell der Ganztagsschule allein nichts zur Chancengleichheit von Kindern aus sozial schwächeren Familien beitrage, vielmehr in die gezielte Einstellung von mehr pädagogischen Fachkräften investiert werden solle – was sich laut Hopmann aus empirischer Sicht viel eher zur Unterstützung dieser Schüler*innen eigne – gab ihm die damalige Unterrichtsministerin unmissverständlich zu verstehen, dass sie das nicht interessiere und dennoch daran glaube. Nun mag man zum Thema Ganztagsschule stehen, wie man will, aber wenn Politiker*innen nicht einmal gewillt sind, über Expertenmeinungen, die ihnen nicht ins Konzept passen, nachzudenken, lässt das schon an der Ernsthaftigkeit, die hinter der angeblichen Motivation steht, zweifeln.
Diesbezüglich ist also auf Politik und Staat nur wenig Verlass, zumal mit einem Wechsel der Bundesregierung auch immer der Kurs in der Bildungspolitik geändert wird. Die staatlichen Unterstützungen, die zur Verfügung stehen, sind – wie ei Blick auf die Homepage des Bildungsministeriums zeigt – zum Teil nur mit hohem bürokratischen Aufwand und dann nur eigeschränkt zugänglich. Zum Beispiel gibt es für ein- oder zweitägige Schulausflüge grundsätzlich keine finanzielle Unterstützung. Dass aber genau solche Ausflüge zu einer Belastung für Schüler*innen und deren Familien werden können, zeigt nicht nur ein Blick auf das Beispiel von Anna Mayr. Auch Ingrid Kromers Beitrag in der Fachzeitschrift Soziales Kapital (Nr. 17 (2017)) macht anhand von Aussagen interviewter Grundschullehrer*innen (vgl. S. 175f.) deutlich, dass solche Veranstaltungen und die Versorgung der Schüler*innen mit Arbeitsmaterialien oder auch mit passendem Gewand für Eltern schnell zum finanziellen Problem werden können, was dann wiederum die Ausgrenzung und Benachteiligung der betroffenen Kinder und Jugendlichen zur Folge hat, wenn nicht schul- oder klasseninterne Regelungen und Lösungen das verhindern. Vorschläge, wie solche Lösungen aussehen können, bietet sowohl Ingrid Kromers Beitrag als auch beispielsweise die Broschüre der Arbeiterkammer Oberösterreich zum Thema Schulkosten aus dem Jahr 2016 mit ihren Best-Practice-Beispielen (S. 8).
Den meisten dieser Ansätze ist gemein, dass sie auf Schulebene stattfinden und dazu dienen Schüler*innen aus sozial benachteiligten Familien an die „Norm“ – das heißt an Schüler*innen aus einem finanziell abgesicherten Umfeld – anzupassen. Das mag zwar vordergründig helfen, einzelnen Kindern Ausgrenzungserfahrungen zu ersparen, und erfüllt damit einen wichtigen Zweck, allerdings ändert sich dabei nichts an der Tatsache, dass solche Anpassungen im Schulalltag überhaupt nötig sind. Wünschenswert wäre natürlich, dass unser System Schüler*innen, Eltern, Lehrer*innen und Schulen entlastet, indem es die Zusatzkosten, die ein Schulbesuch derzeit für alle bedeutet, verringert oder am besten ganz abschafft, sodass die Schule kein Ort mehr ist, an dem soziale Unterschiede gerade noch deutlicher gemacht werden, sondern ein Ort, an dem die Schüler*innen zumindest bis zu einem gewissen Grad vergessen können, woher sie kommen und zumindest nicht durch einem Mangel an Materialien vom Lernen und ihrer Bildung abgelenkt oder ganz ausgeschlossen werden. Einen Schritt in die richtige Richtung hat z.B. die Stadt Wien getan, die allen Pflichtschulen pro Schüler*in einen festgelegten Zuschuss ausbezahlt, der es den Schulen ermöglicht, zumindest für die Basisausstattung ihrer Schüler*innen zu sorgen (nachzulesen auf der offiziellen Homepage der Stadt Wien). Das hat zum einen den Vorteil, dass Eltern und Schüler*innen von der zeitlichen und finanziellen Belastung, die der Einkauf von Schulsachen am Schuljahresanfang bedeutet, befreit werden und zum anderen bedeutet es auch für die Lehrer*innen in den Schulen einen schnelleren und reibungsloseren Start ins Unterrichtsgeschehen, da allen Lernenden von Anfang an die notwendigen Materialien zur Verfügung stehen.
Für einen Schulbesuch in Österreich, der für dendie Einzelnen wirklich kostenlos ist, wäre es also notwendig, dass Kommunen, Länder und Staat Geld in die Hand nehmen und dieses zweckgebunden an die Schulen auszahlen. Solange das nicht der Fall ist, bleibt es weiter Sache der einzelnen Schulen, Direktorinnen und Lehrerinnen, die Ungerechtigkeiten, die in diesem System herrschen, nach Möglichkeit auszugleichen. Doch dass er es nicht schafft, seinen Kindern, die für ihre sozioökonomische Herkunft nichts können, allen einen – zumindest auf materieller Ebene – unbeschwerten Schulbesuch zu ermöglichen, ist für einen reichen Staat wie Österreich ein eindeutiges Armutszeugnis.