Gibt es in Österreich die gleichen Bildungschancen für alle?
Verfasserin: Wallner Constanze
„Es ist eine Lüge, wenn wir Flüchtlingskindern erzählen, dass sie ein Schulabschluss weiterbringt.“ So lautet die Überschrift eines Blog Artikels, der im Standard veröffentlicht wurde, vom 2.April 2021, also sehr aktuell. Eine 30-jährige Unterrichtende an einer HAK/HAS in Oberösterreich, die im Namen anonym bleiben möchte, äußert sich in ihrem Schreiben über Hoffnungen, den alltäglichen Kampf von MigrantInnen*, vor allem in Bezug auf den schulischen Kontext sowie über den Gedanken, dass Österreich eigentlich als ein solidarisches und chancenreiches Land gilt, wobei sie sich in dieser Hinsicht nicht mehr ganz gewiss ist.
Um es nun konkret darzustellen: Unter dem Pseudonym Lisa, M. beschreibt eine Lehrkraft einer Handelsschule den grundsätzlich hoffnungsvollen Beginn einer „Integrationsklasse“ im Jahr 2016. Darin, Flüchtlingskinder, die in ein Land gebracht wurden, dass ihnen fremd ist, dass ihnen Sicherheit sowie Schutz geben soll und, dass ihnen eine Chance bieten soll, ein neues, hoffnungsvolles, ordentliches Leben zu beginnen. Unterstützung war und ist also von allen Seiten notwendig. Die Alltagssorgen, die diese Kinder täglich begleiten, sind enorm. Kann ich in diesem Land dauerhaft bleiben? Werde ich meine Eltern wieder sehen? Wie soll ich mein Leben nach der Schule finanzieren? Wo werde ich als nächstes wohnen? Nicht zu vergessen, die dramatischen Erinnerungen und Erlebnisse auf dem Fluchtweg sowie „Anfeindungen als Alltagserfahrungen“, wie es Lisa M. pointiert zum Ausdruck bringt. In diesem Tumult aus Ängsten, Traumata, Sorgen oder auch Rassismus sollen diese SchülerInnen* nun noch ihren Schulalltag meistern, gut abliefern und sich in der Gesellschaft integrieren. So wird es zumindest von ihnen verlangt.
Nichtsdestotrotz betont die Verfasserin des Blog Artikels, wie bedeutsam die Schule oft für in Österreich aufgenommene Kinder und Jugendliche ist. Sie gibt ihnen Struktur, einen täglichen Auftrag sowie ebenfalls ein gewisses Gemeinschafts- sowie Sicherheitsgefühl, einfach einen normalen Alltag in der sonst so herausfordernden Lebenslage.
Lisa M. ermutigte ihre SchülerInnen, insbesondere in dieser Klasse, hart für ihre Ziele, hart für die Bildung zu arbeiten und nie aufzugeben, denn mit einer gewissen Bildung sowie einem ordentlichen Schulabschluss würden ihnen die Türen offen stehen. Sie gibt ihnen alle Hoffnung, bringt ihnen als eigene Individuen Wertschätzung entgegen und lässt sie spüren, dass sie in diesem Land willkommen und aufgenommen sind. Trotz alldem: Negativer Asylbescheid sowie Abschiebung in ein Land, das nicht sicher ist.
Sie erinnern sich sicher noch an den Fall der zwölfjährigen Tina, die im Jänner samt ihrer Familie vom einen auf den anderen Tag nach Georgien abgeschoben wurde. Sie war ebenfalls in einer Gemeinschaft groß geworden, die ihr Stütze und Halt boten, FreundInnen, die sie auf ihrem Lebensweg begleiteten sowie sie ein Leben in einem sicheren Land führte. Die Gesetzgebung entschied sich allerdings, der kleinen Tina ein Bild von einem Österreich zu geben, dass Menschen mit Migrationshintergrund sowie Personen, die hierher flüchteten, die dringend Hilfe in unserem Land benötigen, oft einen negativen Asylbescheid gibt und daher einfach das Recht hat, diese Menschen in ein Land zurückzuschicken, das gefährlich sowie unsicher ist. Von einer chancenreichen Zukunft ganz zu schweigen.
Hier wollen wir noch von einem chancengerechten, fairen, solidarischen Heimatland sprechen?
Vor allem als angehende Lehrkraft einer Schule, einer allgemeinen Bildungsanstalt, ist es Gesetz und gerne auch mein Recht, alle SchülerInnen, unabhängig der Herkunft, des Geschlechts, der Hintergründe, der Hautfarbe etc., zu fördern, zu unterstützen, auf ihrem Bildungsweg zu begleiten und diese weiterzubilden. Einfach für alle dieselben Chancen anzubieten. Der §2 des österreichischen Schulorganisationsgesetzes besagt nämlich: „Die österreichische Schule hat die Aufgabe, an der Entwicklung der Anlagen der Jugend nach den sittlichen, religiösen und sozialen Werten sowie nach den Werten des Wahren, Guten und Schönen durch einen ihrer Entwicklungsstufe und ihrem Bildungsweg entsprechenden Unterricht mitzuwirken. Sie hat die Jugend mit dem für das Leben und den künftigen Beruf erforderlichen Wissen und Können auszustatten und zum selbsttätigen Bildungserwerb zu erziehen.“ Und hier steht es schwarz auf weiß geschrieben. Wird im Gesetz nun hier selektiert zwischen SchülerInnen* mit Migrationshintergrund und SchülerInnen* ohne Migrationshintergrund? Steht geschrieben, dass Menschen mit besonderen natürlichen Eigenschaften, welche es auch immer sein mögen, anders, besser oder schlechter behandelt werden sollten?
Da die Antwort hierauf ein schlichtes „Nein“ bedeutet, fragt man sich weswegen nicht alle Menschen in Österreich die gleichen Chancen erhalten dürfen? Hier vor allem auf die Ausbildung der Jugendlichen sowie Kinder bezogen. Und weswegen gibt es überhaupt im Staat Österreich eine Berechtigung und ein Gesetz dafür, Kinder und Jugendliche, inklusive deren Familien, die bereits ihren Bildungsweg für viele Jahre im „sicheren und solidarischen“ Österreich vollständig angetreten haben, Hoffnung verspüren sowie halbwegs ein normales Leben führen können, abzuschieben? Zurück ins Elend, ins Ungewisse, ins Aussichtslose.
Der Terminus „Chancengerechtigkeit“ wird laut dem Duden definiert als: „gerechte Bedingungen, Voraussetzungen für alle bei Ausbildung und gesellschaftlich-sozialer Entwicklung“. Um die traurige Wahrheit zu benennen, diese Definition wird in unserem ach so wunderschönen Heimatland nicht umgesetzt. Die Chancengerechtigkeit gilt nämlich offenbar nur für jene Menschen in Österreich, die auch in diesem Land geboren wurden (wobei dies auch nicht immer zutrifft). Diese werden ja vermutlich auch als „alle“ definiert. Der „Rest“ hat offenbar keine Definition und daher weniger Rechte und Chancen.
Erwähnter Artikel:
https://www.derstandard.at/story/2000125438031/es-ist-eine-luege-wenn-wir-fluechtlingskindern-erzaehlen-dass-ein?ref=rec
§2 des Schulorganisationsgesetzes: https://www.jusline.at/gesetz/schog/paragraf/2
Faktenwissen ist von gestern! – Ein Plädoyer für ein neues Verständnis von Wissen
Verfasserin: Eva-Maria Schitter
Allem voran in Bildungsinstitutionen, insbesondere Schulen und Universitäten, besteht bis heute ein starres Verständnis darüber, was Wissen und Intelligenz ist. PISA, Bologna-Prozess, die aktuellen Novellen im Studienrecht — dies sind nur einige der bekannteren Beispiele, um zu verbildlichen, welche Bildungsideale aktuell flächenwirksam nach wie vor vorherrschend sind. Zusammenfassend könnte es überspitzt so ausgedrückt werden: Oberste Prämisse ist es, sich quantifizierbares Wissen anzueignen, das möglichst in Einklang mit der breiten Masse steht, sodass es skalenbasiert bewertbar, vergleichbar und hierarchisch eingeordnet werden kann. Positiv ausgedrückt könnte man von Gleichklang, Übereinstimmung und Harmonie sprechen. Näher an der traurigen Realität wären aber Begriffe wie Konformismus, Homogenität und Rasterdenken — eine Diktatur der Zahlen und Fakten eben. Diese Regierungsform sollte zumindest in unseren Breitengraden längst passé sein.
Die hauptsächliche Tätigkeit von Schüler*innen für Schularbeiten und Tests sowie jene von Studierende gegen Ende des Semester, wird in Anlehnung an eine verbreitete Essstörung als Bulimie-Lernen bezeichnet, worunter das gezielte Auswendiglernen von Faktenwissen verstanden wird, damit es für die Dauer einer Prüfung, Klausur oder Schularbeit abgerufen werden kann und danach wieder aus dem Kurzzeitgedächtnis zu streichen. Was also in den Ernährungswissenschaften als grob fahrlässig seinem eigenen Körper gegenüber eingestuft wird, ist in den Erziehungswissenschaften alltägliche Usance.
Es klingt lächerlich und traurig, feststellen zu müssen, dass diese Art zu Lernen und zu Lehren offensichtlich so tief im Bildungssystem verankert ist, dass es schlichtweg noch immer nicht gelungen ist, sie zu überwinden. Leider ist durch die oben genannten Beispiele eher Gegenteiliges der Fall. Die offensichtliche und wissenschaftlich erwiesene Tatsache, dass das Setzen auf Faktenwissen weder Alltagstauglichkeit beweist noch gegenwärtig und schon gar nicht zukünftig behilflich dafür ist, den jüngeren Generationen Toolkits mit auf den Weg zu geben, mit denen sie für Ihren Lebensalltag gewappnet sind, lässt nicht nur am gesunden Menschenverstand der führenden Persönlichkeiten in der Bildungspolitik zweifeln, sondern auch die Hoffnung verblassen für eine progressive Entwicklung, die gangbare Grundvoraussetzungen für das Bilden und Ausbilden verantwortungsvoller und selbst verantwortungsbewusster Menschen setzt.
So negativ der Status Quo klingen mag, umso proaktiver sollten wir als angehende Lehrende wirken, umso entschlossener uns den institutionellen Schwierigkeiten entgegensetzen und umso konsequenter den eigenen Handlungsspielraum nutzen, um Fähigkeiten weiterzugeben, die tatsächlich zur Formung einer Gesellschaft beitragen können, die vor dem Hintergrund kybernetischer, künstlich-intelligenter, technoider Entitäten nicht nur bestehen kann, sondern der Digitalität in den im wahrsten Sinne des Wortes menschenmöglichen Bereichen überlegen bleibt. Siri wird schneller das Datum des Mauerfalls ausfindig gemacht haben— inklusive seiner historischen Kontexte – als jeder und jede noch so begabte Studierende beginnen kann, überhaupt erst darüber nachzudenken.
Die Pandemie ist Anlass dazu, dieses hegemoniale System nicht nur theoretisch, sondern auch operativ zu durchbrechen und uns hinzuwenden zu jenen Kompetenzen, die uns tatsächlich gegenüber den Maschinen, die lange schon Einzug in unseren Lebensalltag gehalten haben, einzigartig und unersetzlich bleiben lassen. Das nicht ganz einvernehmliche Zugeständnis der Lehrenden an den Universitäten, die Prüfungen so umzugestalten, sodass Inhalte nicht mehr auf Fakten und exakten Wortlauten hin abgefragt werden, sondern vom erlernten Wissen in angewandten Beispielen und kontextbezogen Gebrauch zu machen, ist ein erster wenn auch nicht ganz vorbehaltloser Schritt vieler Universitätsprofessor*innen und -bediensteter in eine richtigere Richtung. Tobias Mayr fasst die aktuelle Lage in seinem Standard-Artikel „Onlineprüfungen: Wissen interpretieren statt auswendig lernen“, trefflich zusammen. Abstrakten Theorien und Modellen kann auf diese Weise praxisbezogenes Verständnis eingehaucht werden, was nicht nur die Aneignung des Stoffgebietes auf einer eingängigeren Weise fördert, sondern auch die Relevanz komplizierterer Themenkomplexe für Lernende nachvollziehbarer und dadurch spannender werden lässt. Das lässt einen leisen Enthusiasmus aufkommen. Es sei zu hoffen, dass das nur der Anfang von etwas neuem Großen ist.
Erwähnter Artikel:
https://www.derstandard.at/story/2000124649978/online-pruefungen-wissen-interpretieren-statt-analysieren