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(Annemarie Schaffer)

Der folgende Beitrag entstand u.a. in der Auseinandersetzung mit einem Kapitel des Buches ‚Die Elenden‘, erschienen 2020 im Hanser Verlag.

Anna Mayr, deutsche Journalistin und als Tochter zweier Langzeitarbeitsloser mit Hartz-IV aufgewachsen, stellt darin Beobachtungen und Überlegungen zum Umgang der Gesellschaft mit „den Arbeitslosen“ an. Dabei kann das Kapitel ‚Das Ändern der Realität. Warum das Schicksal der Arbeitslosen für alle wichtig ist‘ durchaus als Plädoyer für eine unvoreingenommene und differenzierte Wahrnehmung (nicht nur) dieser Bevölkerungsgruppe gelesen werden, auch wenn Mayr selbst in ihrem Text immer wieder der (wahrscheinlich zutiefst menschlichen) Tendenz zur Pauschalisierung unterliegt. 

Ausgangspunkt aber nicht Fokus ihrer Ausführungen sind ihre eigenen Gefühle, die sie in unterschiedlichen Situationen – aber immer im Zusammenhang mit ihrer Rolle als „Aufsteigerin“ – überkommen (haben). So schreibt sie über die Traurigkeit und die Angst, die sie als Kind empfunden hat, wenn ihre Eltern nicht genug Geld für einen Schulausflug oder neue Sportkleidung hatten; sie schreibt über das Unbehagen, das sie nun als Erwachsene manchmal überkommt, wenn sie sich weder in der Welt ihrer Kindheit – die Wohnung ihrer Eltern im Plattenbau – noch in der Welt des wohlhabenden Bildungsbürgertums, in die sie „aufgestiegen“ ist, zuhause fühlt; und sie schreibt über die Wut, die manche verallgemeinerten Annahmen und Vorurteile über das Milieu ihrer Eltern in ihr aufkommen lassen.

Im Zusammenhang mit diesem Blog und der damit verbundene Lehrveranstaltung ergibt sich daraus für mich die Frage, was Schule und Unterricht dazu beitragen können, dass Menschen mit einer ähnlichen Lebensgeschichte wie Anna Mayr zumindest ein Teil dieser negativen Gefühle erspart bleiben. Dabei können die Haltung und die Einstellung, die Schüler*innen in der Schule vermittelt bzw. vorgelebt bekommen, gewiss ihren Teil dazu beitragen, dass die Erfahrung der Ausgrenzung aufgrund einer anderen – von der Gesellschaft allgemein als schlechter wahrgenommenen – sozialen Herkunft und das damit verbundene fehlende Gefühl der Zugehörigkeit möglichst klein gehalten wird. Allerdings sind für einen Ausgleich sozialer Ungleichheiten in der Schule auch und vor allem finanzielle Mittel nötig. Wenn es einem Kind nämlich, wie von Mayr beschrieben, nicht möglich ist, an einem Schulausflug teilzunehmen, weil die Familie das Geld dafür nicht aufbringen kann, hilft keine noch so unvoreingenommene und aufgeschlossene Haltung gegen die Ausgrenzung von einer gemeinsamen Erfahrung im Klassenverband. Dasselbe gilt für das zweite Beispiel, das im Text angeführt wird: Kann man sich kein passendes Sportgewand leisten, setzt man sich dadurch unfreiwillig rein optisch von seinen Klassenkamerad*innen ab, was in einem Alter, in dem der Turnunterricht für manche aufgrund von körperlichen Veränderungen ohnehin schon keine ganz unproblematische Angelegenheit ist, eine weitere psychische Belastung für eine*n Schüler*in darstellt.

Im Angesicht solcher Probleme kann eine einzelne Lehrperson allein wenig ausrichten. Da sind Klassen- und Schulgemeinschaft, Gesellschaft und Politik gefragt. Allerdings ist leider festzustellen, dass gerade in der Politik dem Voranbringen parteipolitischer Projekte höhere Priorität eingeräumt wird als der tatsächlichen Unterstützung von sozial schwächeren Kindern. Das zeigt sich beispielsweise auch in einem Interview, das die Tageszeitung Der Standard 2016 mit dem Bildungswissenschafter Stefan Hopann geführt hat. Darin geht es um die Bestrebungen der damaligen Unterrichtsministerin die Ganztagsschule in Österreich auszubauen, um der Benachteiligung sozial benachteiligter Schüler*innen entgegenzuwirken. Hopmann, der damals auch als Berater von der Regierung herangezogen worden war, kritisierte dieses Vorhaben als „hinausgeworfenes Geld“. Denn auf seinen Einwand, dass das Modell der Ganztagsschule allein nichts zur Chancengleichheit von Kindern aus sozial schwächeren Familien beitrage, vielmehr in die gezielte Einstellung von mehr pädagogischen Fachkräften investiert werden solle – was sich laut Hopmann aus empirischer Sicht viel eher zur Unterstützung dieser Schüler*innen eigne – gab ihm die damalige Unterrichtsministerin unmissverständlich zu verstehen, dass sie das nicht interessiere und dennoch daran glaube. Nun mag man zum Thema Ganztagsschule stehen, wie man will, aber wenn Politiker*innen nicht einmal gewillt sind, über Expertenmeinungen, die ihnen nicht ins Konzept passen, nachzudenken, lässt das schon an der Ernsthaftigkeit, die hinter der angeblichen Motivation steht, zweifeln.

Diesbezüglich ist also auf Politik und Staat nur wenig Verlass, zumal mit einem Wechsel der Bundesregierung auch immer der Kurs in der Bildungspolitik geändert wird. Die staatlichen Unterstützungen, die zur Verfügung stehen, sind – wie ei Blick auf die Homepage des Bildungsministeriums zeigt – zum Teil nur mit hohem bürokratischen Aufwand und dann nur eigeschränkt zugänglich. Zum Beispiel gibt es für ein- oder zweitägige Schulausflüge grundsätzlich keine finanzielle Unterstützung. Dass aber genau solche Ausflüge zu einer Belastung für Schüler*innen und deren Familien werden können, zeigt nicht nur ein Blick auf das Beispiel von Anna Mayr. Auch Ingrid Kromers Beitrag in der Fachzeitschrift Soziales Kapital (Nr. 17 (2017)) macht anhand von Aussagen interviewter Grundschullehrer*innen (vgl. S. 175f.) deutlich, dass solche Veranstaltungen und die Versorgung der Schüler*innen mit Arbeitsmaterialien oder auch mit passendem Gewand für Eltern schnell zum finanziellen Problem werden können, was dann wiederum die Ausgrenzung und Benachteiligung der betroffenen Kinder und Jugendlichen zur Folge hat, wenn nicht schul- oder klasseninterne Regelungen und Lösungen das verhindern. Vorschläge, wie solche Lösungen aussehen können, bietet sowohl Ingrid Kromers Beitrag als auch beispielsweise die Broschüre der Arbeiterkammer Oberösterreich zum Thema Schulkosten aus dem Jahr 2016 mit ihren Best-Practice-Beispielen (S. 8).      

Den meisten dieser Ansätze ist gemein, dass sie auf Schulebene stattfinden und dazu dienen Schüler*innen aus sozial benachteiligten Familien an die „Norm“ – das heißt an Schüler*innen aus einem finanziell abgesicherten Umfeld – anzupassen. Das mag zwar vordergründig helfen, einzelnen Kindern Ausgrenzungserfahrungen zu ersparen, und erfüllt damit einen wichtigen Zweck, allerdings ändert sich dabei nichts an der Tatsache, dass solche Anpassungen im Schulalltag überhaupt nötig sind. Wünschenswert wäre natürlich, dass unser System Schüler*innen, Eltern, Lehrer*innen und Schulen entlastet, indem es die Zusatzkosten, die ein Schulbesuch derzeit für alle bedeutet, verringert oder am besten ganz abschafft, sodass die Schule kein Ort mehr ist, an dem soziale Unterschiede gerade noch deutlicher gemacht werden, sondern ein Ort, an dem die Schüler*innen zumindest bis zu einem gewissen Grad vergessen können, woher sie kommen und zumindest nicht durch einem Mangel an Materialien vom Lernen und ihrer Bildung abgelenkt oder ganz ausgeschlossen werden. Einen Schritt in die richtige Richtung hat z.B. die Stadt Wien getan, die allen Pflichtschulen pro Schüler*in einen festgelegten Zuschuss ausbezahlt, der es den Schulen ermöglicht, zumindest für die Basisausstattung ihrer Schüler*innen zu sorgen (nachzulesen auf der offiziellen Homepage der Stadt Wien). Das hat zum einen den Vorteil, dass Eltern und Schüler*innen von der zeitlichen und finanziellen Belastung, die der Einkauf von Schulsachen am Schuljahresanfang bedeutet, befreit werden und zum anderen bedeutet es auch für die Lehrer*innen in den Schulen einen schnelleren und reibungsloseren Start ins Unterrichtsgeschehen, da allen Lernenden von Anfang an die notwendigen Materialien zur Verfügung stehen.

Für einen Schulbesuch in Österreich, der für dendie Einzelnen wirklich kostenlos ist, wäre es also notwendig, dass Kommunen, Länder und Staat Geld in die Hand nehmen und dieses zweckgebunden an die Schulen auszahlen. Solange das nicht der Fall ist, bleibt es weiter Sache der einzelnen Schulen, Direktorinnen und Lehrerinnen, die Ungerechtigkeiten, die in diesem System herrschen, nach Möglichkeit auszugleichen. Doch dass er es nicht schafft, seinen Kindern, die für ihre sozioökonomische Herkunft nichts können, allen einen – zumindest auf materieller Ebene – unbeschwerten Schulbesuch zu ermöglichen, ist für einen reichen Staat wie Österreich ein eindeutiges Armutszeugnis.   

von Johanna Stögermayr

Die Autorin Melisa Erkurt schreibt in ihrem Kapitel „Warum können Sie so gut Deutsch“ über ihre Erfahrungen, mit welchen sie als „Ausländer-Kind“ zu kämpfen hatte. Sie ist eines der vielen positiven Beispiele von gelungener Integration. Gelungen, weil sie in einer Integrationsklasse mit bemühten PädagogInnen war, in der sie von den anderen SchülerInnen lernen und so genügend Selbstvertrauen aufbauen konnte.

Jedoch ist es leider häufig so, dass Kinder mit Migrationshintergrund in eine eigene „Deutschklasse“ kommen. Das hat den Nachteil, dass die Kinder untereinander entweder nicht deutsch sprechen oder nur „fehlerhaftes“ Deutsch hören bzw. sprechen lernen. Weiters ist es für die SchülerInnen schwieriger Freundschaften mit „heimischen“ SchülerInnen zu knüpfen, oder eine eigene Identität zu entwickeln, da sie durch die „Deutschklassen“ das Gefühl bekommen anders zu sein. Aus diesem Grund fällt es ihnen auch schwer sich später in der Gesellschaft zu integrieren, da sie es nicht anders gelernt haben.

Daher ist es als Lehrperson besonders wichtig SchülerInnen mit Migrationshintergrund in einer Integrationsklasse zu unterstützen und ihnen zu zeigen, dass sie genauso besonders sind wie alle anderen SchülerInnen in der Klasse. Von Anfang an sind Sprache, Herkunft, Vergangenheit und der kultureller Hintergrund anders als von den anderen. Erkurt erzählt davon, dass ihre KindergartenpädagogInnen sie nie spüren ließen anders zu sein, wofür sie ihnen bis heute dankbar ist. Aus diesem Grund müssen auch wir in der Sekundarstufe 1 und 2 die SchülerInnen so gut es geht unterstützen, indem wir im Unterricht auf die Mehrsprachigkeit eingehen anstatt sie zu diskriminieren oder ihnen verbieten in ihrer Sprache zu sprechen.

Für uns als Lehrpersonen sollte es normal sein den SchülerInnen zu zeigen, dass sie auf ihre Muttersprache stolz sein können, denn nur so können sie sich auf eine neue Sprache, Kultur und somit auf ein neues Leben einlassen. Werden sie jedoch im Gegensatz dazu nur diskriminiert, würde es kein Mensch schaffen sich auf „Schulzeug“ zu konzentrieren.

Hier zwei Beispiele, wie man die Mehrsprachigkeit von SchülerInnen und zugleich auch alle SchülerInnen im Unterricht integrieren kann.

  • Eine kurze Geschichte übersetzen:

Im Unterricht wird eine Geschichte erzählt und als Hausaufgabe sollten die SchülerInnen die Geschichte so erzählen, als würden sie es einem Freund erzählen. Dabei dürfen sie ihre Umgangssprache (Mundart oder andere Muttersprache) verwenden. Am nächsten Tag werden die Geschichten vor der Klasse in den verschiedenen Sprachen vorgetragen. Anschließend kann darüber gesprochen werden, wie die Sprache auf die SchülerInnen gewirkt hat. War sie schnell, langsam, flüssig oder eher stockend? Woran könnte das liegen? Hört sich die Sprache von zwei SchülerInnen mit der gleichen Muttersprache unterschiedlich an und woran könnte das liegen?

  • Sportunterricht: jeder zählt auf einer anderen Sprache bis zehn:

Die SchülerInnen müssen herausfinden, wie viele Sprachen sie insgesamt in der Klasse sprechen können. Dann wird eine Übung ausgewählt, wie z.B. Sit-ups, Liegestütz. Jede Übung wird zehnmal gemacht und ein/e Schüler/in zählt in einer anderen Sprache als Deutsch und die anderen sprechen ihm/ihr während den Übungen laut nach. Das kann auch dabei helfen, dass die SchülerInnen sich mit ihrer Sprache und Herkunft identifizieren können und es cool ist einen andere Sprache zu sprechen.

Mein Appell an die Politik und LehrerInnen lautet, dass es keine „Deutschklassen“ mehr geben sollte. Stattdessen sollten alle SchülerInnen gemeinsam in eine Klasse sein und am selben Gegenstand arbeiten.

Persönliche Stellungnahme zweier LehramtsstudentInnen zu dem Kapitel „Chancenlos von Anfang an“ aus dem Buch „Generation haram. Warum Schule lernen muss, allen eine Stimme zu geben.“ Von Melissa Erkurt. Ein Text von Christina Schöppl und Markus Lohberger

Wir kommen aus einer sehr behüteten Familie: Die Mahlzeiten wurden immer gemeinsam eingenommen, am Abend wurde uns vorgelesen und man versuchte unseren Fernsehkonsum gering zu halten, weil es damals hieß, dass es schlecht für die Augen sei. Wir erledigten unsere Hausübungen, während unsere Mutter am Herd stand und das Essen vorbereitete und am frühen Abend fielen wir unserem Vater in die Arme, wenn er von der Arbeit nach Hause zurückkehrte. Im Großen und Ganzen war es ein behütetes Heranwachsen in einer klassischen Familienkonstellation mit Mutter, Vater und Kindern. Diese Situation stellte für uns etwas Normales und Gegebenes dar. Uns war nicht bewusst, dass es nicht allen so ging. Mit den Jahren des Heranwachsens wird einem erst klar, dass nicht alle so viel Glück ihr Eigen nennen. Je älter man wird und umso mehr Leute man kennenlernt, desto mehr Geschichten erfährt man. Man kennt die Probleme von Freunden und lernt die Schwierigkeiten kennen. Man versucht jenen zu helfen. So geht es auch den Lehrpersonen aus dem Text. Diese kennen die Probleme der SchülerInnen. Sie erfahren, dass Kindern in der Volksschule noch nie das beglückende Gefühl zuteilgeworden ist, dass jemand ihnen vorliest und eine Welt vor ihrem inneren Auge entsteht. Lehrpersonen erfahren, dass viele SchülerInnen Probleme mit dem Deutschen haben, nicht weil sie es nicht lernen wollen, sondern weil sie außerhalb der Schule keinen Kontakt zu deutschsprachigen Leuten haben. Sie erfahren alle diese Probleme und wollen helfen. Sie wollen ihre Aufsichtspflicht erfüllen und zugleich gute Menschen sein. In unserem System ist das allerdings schwer möglich. Als LehramtsstudentIn erlangt man bereits eine gewisse Einsicht in die Lebenswelt von Lehrpersonen. In unserem Verwandtenkreis gibt es selbst einige Lehrpersonen, von denen wir Geschichten kennen.

Lehrpersonen haben in den letzten Jahren an Ansehen verloren. In der Zeit unserer Großeltern wurden LehrerInnen noch als Autoritätspersonen von SchülerInnen und Eltern gesehen. Mittlerweile ist dieses Ansehen deutlich gesunken. Lehrpersonen sind in einen Zwiespalt geraten: Sie sollen einerseits sicherstellen, dass SchülerInnen den angestrebten Standard erreichen, andererseits sollen sie aber auch ein Verständnis für ihre Schutzbefohlenen haben, diese in ihren Talenten fördern und auch sonst unterstützen. Gleichzeitig wollen LehrerInnen natürlich auch Zeit für ihr Privatleben und ihre eigene Familie behalten. Besagte unterschiedlichen Ziele unter einen Hut zu bringen fällt nicht leicht. Obwohl Lehrpersonen lediglich etwa 22 Stunden in der Schule im Unterricht zubringen, kommt auch noch die Vor- und die Nachbereitung der Stunden dazu. Diese fällt vor allem gewaltig aus, wenn ein/eine LehrerIn wirklich engagiert ist und den Unterricht speziell auf die jeweilige Klasse zuschneidet. Vor allem in der jetzigen Situation mit der Corona-Pandemie ist das Lehramt zu einem permanenten Bereitschaftsjob geworden, da Eltern und SchülerInnen immer wieder Kontakt suchen, wenn etwas im Distance-Learning nicht verstanden wurde.

Man kann sich die Situation eigentlich sehr einfach vorstellen. Ein/eine LehrerIn soll mittlerweile bei der Erziehungsarbeit der SchülerInnen mithelfen. Eine durchschnittliche Klasse nennt 25 SchülerInnen ihr Eigen. In der Volksschule befindet sich eine Lehrkraft täglich etwa vier Stunden in der Klasse. In der Sekundarstufe fällt diese Zahl auf eine bis zwei Stunden herab. In diesem Zeitraum sollen Lehrer Probleme beheben, die Schüler zuhause haben. Dies aber nicht für ein oder zwei Kinder, sondern vor allem in Brennpunktschulen für ganze Klassen. Gleichzeitig muss die Lehrkraft aber ihre Aufgabe erfüllen und die SchülerInnen bewerten. Die Funktion einer Schule ist einerseits die Wissensvermittlung, andererseits die Bewertung. Sind SchülerInnen  gut genug, um die Schulstufe zu bestehen oder um die Reifeprüfung zu erhalten? Besagte Situation wurde auch in dem Text von Melisa Erkurt behandelt.

Die komplett unterschiedlichen Aufgaben und Bedürfnisse sind unserer Meinung nach im jetzigen System nicht unter einen Hut zu bringen. LehrerInnen sollen in ihrem Unterrichtsgegenstand auf einem akademischen Niveau sein, das in der Schule keinesfalls erreicht wird. Sie sollen eine didaktische Ausbildung haben und zusätzlich ein offenes Ohr für ihre SchülerInnen haben und die Erziehungsfehler der Eltern ausbügeln. Für diese Aufgaben fehlen unserer Ansicht nach die unterstützenden Strukturen und Förderungen, die dafür nötig wären. Wenn man all diese Aufgaben bewältigen soll, dann müsste die Klassengröße verringert werden, man bräuchte mehr Zeit mit den Schülern, in denen man keinen Stoff „durchbringen“ muss, um jene auf die Matura vorzubereiten, man bräuchte eine/n weiteren Pädagogen/-in, der sich auf bestimmte SchülerInnen genauer konzentrieren kann. Die hier beschriebene Problematik ist schlussendlich eine gesellschaftliche und politische, die auf dem Rücken der Schulangestellten und in weiterer Folge auf dem der heranwachsenden Generation ausgefochten wird.

 

Nachdem wir den Artikel von Erkurt „Chancenlos von Anfang an. Bildungsalltag vom Kindergarten bis zur Matura.“ gelesen haben, fragten wir uns, mit welchen Maßnahmen die genannten Zustände verbessert werden könnten. Dass dies längst nötig ist, steht für uns völlig außer Frage.

Es ist klar, dass jede*r, ob man will oder nicht, Situationen nach eigener Anschauung und Haltung beurteilt. Tatsächlich kann man sagen, dass meist unbewusst voreilige Schlüsse gezogen werden. Ein Beispiel hierzu wäre der Fall des tschetschenischen Kindes, das einen querschnittgelähmten Bruder hat. Deshalb benimmt es sich „auffällig“, tanzt aus der Reihe. Deshalb kommen die Eltern nie zum Elternsprechtag oder interessieren sich nicht wirklich für die Anliegen der Lehrperson. Nicht, wie von der Lehrperson zuerst angenommen, weil es sich um ein eher sozial schwächeres Elternhaus handelt, sondern, weil die Eltern in Vollzeit den Bruder pflegen, der ihnen so viel abverlangt und der einfach ihre komplette Zeit in Anspruch nimmt – Zeit, die aber auch ihr Sohn, der in die Schule geht, dringend benötigen würde. (Erkurt, 2020, S. 24)

Dennoch muss erwähnt werden, dass sich die Lehrperson normalerweise bewusst keine voreilige Meinung über andere bildet, hat sie doch selbst Migrationshintergrund und weiß darüber Bescheid, wohin Vorurteile führen können.

Aber was kann man wirklich dagegen tun, diesen Fehler zu vermeiden, ist es doch so menschlich, unbekannte Situationen quasi fertig zu denken? Wir sehen die einzige Lösung darin, sich wirklich bewusst zu machen, dass, solange es keine stichhaltigen Beweise für etwas gibt, die Lage nicht definiert werden kann. Dies erfordert möglicherweise etwas Übung, aber je öfter man sich dies ins Bewusstsein ruft, umso mehr verankert sich dieser Gedanke und manifestiert sich im Handeln.

Ein weiterer Missstand, der in dem Artikel aufgedeckt wurde ist, dass Kindergärten keinen roten Faden bei der Bildung der Jüngsten haben. Dabei bräuchten auch diese Pädagog*innen ein Pendant zum Lehrplan, sodass ein fließender Übergang zwischen den Lernstufen entstehen kann. Hier bedarf es vor allem einer Reformierung durch die Politik sowie einer bedeutenden Aufwertung des Berufes der Kindergartenpädagog*innen, der leider immer noch nicht das Ansehen genießt, das er verdient. Noch immer wird dieser wichtige Job leider viel zu oft einfach nicht wirklich ernst genommen und teilweise sogar ins Lächerliche gezogen – Pädagog*innen spielen doch eh nur den ganzen Tag mit den Kindern, da ist doch nix dabei.

Außerdem sollte für Kinder, die von den Eltern wenig bis kaum unterstützt werden, eine Ganztagsbetreuung optional verfügbar sein, sodass auch sie die nötige zusätzliche Unterstützung außerhalb der Bildungseinrichtungen erhalten. Aus demselben Grund sollten die zu betreuenden Gruppen in den Bildungseinrichtungen verkleinert werden. Auch hier muss die Politik aktiv werden, denn dies erfordert natürlich eine höhere Anzahl an geschultem Personal. Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie wurde sichtbar, wie wichtig und richtig Kleingruppen sind und welchen Mehrwert die Kinder darin haben. Auch die Lehrpersonen/Pädagog*innen können so voll und ganz ihren Aufgaben nachgehen und so jedem Kind gerecht werden. Denn bis jetzt war das leider nicht immer der Fall, da den Lehrpersonen/Pädagog*innen einfach die Hände gebunden waren und sie sich nicht fünfteilen konnten, auch, wenn sie dies den Kindern zuliebe so gerne gemacht hätten.

Erschreckend war weiters die Tatsache, dass viele Kinder überhaupt keinen Bezug zu Büchern haben. Dieser Missstand könnte mit dem Gang zur Bücherei als Pflicht in der Volksschule gelöst werden, denn jede*r Schüler*in sollte die Möglichkeit haben, Bücher zu lesen, die dem Interesse entsprechen. Hierbei wird also nicht nur die Einstellung zu Büchern insgesamt verbessert, nebenbei wird Wissen aufgebaut und Lesen bzw. die Sprache geübt oder aber auch gelernt. Es gibt so viele tolle Kinderbücher, die wirklich alle totale Lust zum Lesen und Schmökern machen – je früher man damit anfängt, umso besser. Lesen ist ein so wichtiger Bestandteil im Leben und sollte gefördert und gefordert werden. Außerdem gibt es gerade bei Büchern keine Ausreden oder sonstiges, dass sich eine Familie diese nicht leisten kann, denn es gibt in so gut wie jedem Ort eine öffentliche Gemeindebücherei und das nicht erst seit ein paar Jahren. Ein tolles Angebot, welches davon lebt, um genutzt zu werden!

Zum Thema sprachliche, aber auch kulturelle Missstände sei noch gesagt, dass die Kommunikation mit Eltern aus anderen Kulturkreisen Teil der pädagogischen Ausbildung sein soll, sodass man als Pädagog*in mit diesen Barrieren besser umzugehen weiß.

Des Weiteren sollten Aufgaben, die unaufschiebbar sind, unbürokratisch verteilt werden. Als Beispiel wurde im Artikel eine Volksschullehrerin genannt, die blaue Flecken an einem ihrer Schüler entdeckt hatte und so sollte es doch in Fällen wie diesen möglich sein, sich unkompliziert und unverzüglich an eine weitere dafür extra eingerichtete Stelle zu wenden, sodass dem Kind schnellst- und bestmöglich geholfen wird. Solche Missstände müssen sofort aufgedeckt werden im Sinne des Kindeswohles. Denn wer gibt den Kindern sonst eine Stimme, wenn wir es nicht tun? (Erkurt, 2020, S. 26)

Verfasst von:

Lena Lesslhumer & Diana Thunhart

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Das Kapitel „Chancenlos von Anfang an. Bildungsalltag vom Kindergarten bis zur Matura.“ aus dem Buch „Generation haram: Warum Schule lernen muss, allen eine Stimme zu geben“ von Melisa Erkurt ist aktueller und wichtiger denn je und hat uns zum Nachdenken gebracht. Die in Sarajevo geborene Autorin dreht unsere Vorstellung des Lehrerdasein der „heilen Welt“ komplett auf den Kopf. Wenn wir an unseren zukünftigen Job denken, haben wir die „ideale“ Schulklasse vor Augen, die brav und lernwillig im Klassenraum sitzt und zuhört. Jedoch wird uns früher oder später die Realität treffen. Wir wollen dafür bereit sein und Lösungen für unsere Schüler*innen parat haben. Denn Lehrpersonen haben einen enorm großen Einfluss auf Lernende. (Erkurt, 2020)

Jedoch fragen wir uns: Wie viel können wir als Lehrpersonen wirklich bewirken, wenn nie eine Basis für die Kinder durch ihre Eltern gegeben wurde? Zudem bietet uns die österreichische Regierung nicht unbedingt den idealen Typus Schule an:

Denn der sozioökonomische Status in Österreich spielt leider noch immer eine sehr große Rolle. In Bezug auf die Wahl der weiteren Schule wirkt sich die Chancenungleichheit vorrangig über Leistungsdefizite der benachteiligten Schüler*innen aus. Die österreichische Regierung wollte diese Ungleichheit etwa mit der Idee der NMS ausbügeln, welche im Herbst 2012 eingeführt wurde. Jedoch legte sich die Bevorzugung einer AHS der Eltern mit hoher Bildung nicht durch die neu eingeführte Option der Regierung. Leider, denn das hätte zu einer sozialen Durchmischung der Schüler geführt und die Chancengleichheit etwas vergrößert. Somit bedarf es an weiteren Lösungsansätzen der Politik. (Bruneforth et al. 2012, S. 196–206)

Aber auch mit diesen Voraussetzungen wollen wir nur das Beste aus unseren zukünftigen Schüler*innen herauskitzeln. Nur wie kann man sich auf solche Kinder und Jugendlichen (die mit den im Buch angesprochenen Problemen konfrontiert sind) konzentrieren, sie fördern, ihnen sinnvoll helfen und dabei auch die restliche Klasse, ohne jemanden zu benachteiligen, unterrichten?

Eine Kollegin stellte uns das Buddy-Programm vor. Junge Erwachsene werden mithilfe eines Persönlichkeitstests Schüler*innen zugeteilt, für die sie dann als Mentor, Gesprächspartner oder auch große*r Freund*in bei jeglichen Problemen zu Seite stehen. Oft beschränkt sich das Mentoring Programm auch nur auf die Berufsorientierung und wird auf freiwilliger Basis von Studenten beispielsweise durchgeführt. 

Dieses Konzept ist zudem ein Ansatz, der vermutlich das „Marketing“-Problem des Förderunterrichts umgehen kann. Gemeint ist damit die Tatsache, dass – wie auch im Buch erläutert – viele Eltern ihre Kinder oft nicht in einen Förderunterricht schicken wollen. Das Wort an sich ist also negativ konnotiert, wobei das Konzept dahinter jedoch so wichtig für ebendiese Lernenden wäre. Ein innovativer Ansatz wie das obengenannte Programm könnte also ein zusätzlicher, hilfreicher Stützpunkt und für manche Jugendlichen sogar der „Retter in Not“ sein. Aber wenn es nun wirklich soweit kommen muss, dass Förderprogramme unter einem Deckmantel vermarktet werden müssen, um angenommen zu werden, kann es dann wirklich an den Lernenden liegen, dass diese überhaupt förderbedürftig sind? Viele Lernende, so auch Erkurt, die förderbedürftig sind, sind eigentlich prinzipiell zum Lernen motiviert, woran es scheitert, sind oft die Eltern, die diese hilfreichen Programme nicht akzeptieren. Meist resultiert dies aus kulturellen Überzeugungen. (Erkurt, 2020, S. 23–25)

Aus all diesen Gründen ist daher vor allem eine gute Basis an Erziehungsarbeit notwendig. Da diese allerdings vom Elternhaus nicht immer gegeben ist, liegt es vor allem an den Kindergartenpädagog*innen, den Kindern moralische und gesellschaftliche Werte und Normen pädagogisch sinnvoll zu vermitteln, sie also auf das „echte Leben“ bereits im jungen Alter vorzubereiten. Dies ist jedoch alles andere als einfach, da das Lernsetting im Kindergarten von „Störfaktoren“ wie etwa andauernd streitenden Kindern beeinträchtigt wird. Aus diesem Grund sollte den Kindergartenpädagog*innen viel mehr Respekt und Ansehen entgegengebracht werden, als es momentan der Fall ist. Vor allem diesen Punkt betont auch Erkart immer wieder in ihrem Werk. (Erkurt, 2020, S. 21)

Die oben angeführte Kritik an die Gesellschaft und insbesondere an Eltern ist schön und gut, allerdings kann dieser Faktor nicht allein der Angriffspunkt sein, an dem etwas geändert werden sollte. Um den Lernenden zu helfen, muss unserer Ansicht nach vor allem an der Hauptquelle des Lernens angesetzt werden – der Schule.

Das Konzept Schule existiert jahrelang bereits in der Form wie wir es heute kennen, mit diversen Zweigen und auch neuen Ansätzen, wie etwa die NMS, die sich mittlerweile auch bereits etabliert haben. Beispielsweise anhand der Integrationsproblematik an Schulen wird jedoch schnell klar, dass es noch vieles zu verbessern gibt. Die bis dato ungeklärte Frage, die sich hierbei aber stellt, ist, wie sich das Schulsystem hinsichtlich der Thematik anpassen kann. Haben wir den nötigen Spielraum um in dem relativ „starren“, aktuellen System etwas zu verändern oder müssen wir es komplett umwerfen und neu anfangen?

Ein Ansatz wäre, das Schulsystem so zu gestalten, dass es weitgehend vom Beitrag der Eltern unabhängig ist. Diese Überlegung stößt jedoch schnell an ihre Grenzen denn, zumindest nach dem heutigen Stand der Dinge, wäre ein solcher Ansatz undenkbar. Sozioökonomische Faktoren und der ethische Hintergrund, sowie kulturelle Überzeugungen spielen, wie vorhin bereits erläutert, immer noch eine wesentliche Rolle in Bezug auf das Elternhaus. Würde ein solches System radikal umgesetzt werden, würde sich die Kluft vermutlich nur noch vergrößern. Die Frage bleibt also ausstehend, wie diese grundsätzlich durchaus sinnvolle Überlegung tatsächlich umgesetzt werden kann.

Oft wird auf diese Frage mit dem Konzept der Ganztagsschule geantwortet. Ob dies jedoch die beste Lösung ist, sei dahingestellt. Es müsste jedenfalls noch optimiert werden und vor allem deutlich mehr auf die individuellen Bedürfnisse der Schüler*innen eingehen, um pädagogisch tadellos zu sein.

Eine weitere, letzte Überlegung, wie zumindest teilweise aktiv mitgestaltet werden kann, ist interdisziplinärer Unterricht. Nicht nur können die Lernenden so Inhalte aus verschiedenen Perspektiven und mit verschiedenen Paradigmen betrachten, sondern auch mögliche Probleme können so vielleicht mit Leichtigkeit geklärt werden. Zudem ist für den interdisziplinären Unterricht eine gute Zusammenarbeit des Lehrpersonals notwendig, woran es auch häufig mangelt an Schulen. Unserer Ansicht nach ist ein gut funktionierendes Lehrerkollegium ein erster, fundamentaler Ausgangspunkt, um den Lernenden als gutes Beispiel voranzugehen und sie somit sogar indirekt zu erziehen.

Verfasst von:

Julia Hirner & Sarah Hammelmüller

 

Literaturverzeichnis:

Erkurt Melisa (2020). Generation haram: Warum Schule lernen muss, allen eine Stimme zu geben. Chancenlos von Anfang an. Bildungsalltag vom Kindergarten bis zur Matura. Zsolnay, Paul. S. 15–35.

Bruneforth Michael et al. (2012). Herzog-Punzenberger Barbara (Hrsg). Nationaler Bildungsbericht Österreich 2012 Band 2. Graz: Leykam. S. 189–229.

Geschlecht ist die zentrale Achse der Differenz(-ierung) nicht nur in der Gesellschaft, aber auch in der Schule.

Warum? 

1. Weil Geschlecht, genauso wie die anderen zwei Kategorien sozialer Ungleichheit – social class und race (soziale and ethnische Herkünfte) –zur sozialen Ungleichheit beiträgt, indem es „die Möglichkeiten des Zugangs zu Ressourcen, Macht und Rechten [beeinflusst].

[…] Geschlecht ist eine Kategorie, anhand derer sich Ungleichheiten formen und Hierarchisierungen entwickeln, die wiederum grundlegend Strukturen, Wahrnehmungen und Verhalten prägen, so auch in der Schule” (Bartsch/Wedl, S.10): ein Teufelskreis, der schwer, aber trotzdem zu durchbrechen ist. 

2. Weil Schule ein wichtiger Teil der Gesellschaft ist: in der Schule wird die Zwei-Geschlechter-Ordnung nicht nur alltäglich erlernt und hergestellt (durch die inkompetente Thematisierung von Geschlecht), sondern auch zugespitzt.

Schule ist kein geschlechtsneutraler Raum (so wie unsere Gesellschaft). Schule ist eine Bühne, wo das konstante “Spiel der Geschlechter” stattfindet (so wie in unserer Gesellschaft üblich).

3. Weil Schule ein spezifischer Sozialisationsort ist, wo aktiv in den Prozess der Herstellung von Zwei-Geschlechter-Ordnung eingegriffen werden kann, um die Thematisierung von Geschlecht kompetent zu steuern, und somit die Geschlechtergleichheit in unserer Gesellschaft ein Stück nach vorne zu bringen (Bartsch/Wedl, S.9).

Die „Zwei-Geschlechter-Ordnung“ ist kein gesellschaftliches Modell, das unserer Gesellschaft inhärent ist, sondern es hat sich in dem europäischen Raum erst mit dem 18. Jahrhundert durchgesetzt, d.h. es ist veränderbar und ausgestaltbar (Bartsch/Wedl, S.15).

Idealerweise soll Familie der erste Ort sein, wo Geschlechterdemokratie, d.h. Geschlechtergleichheit beigebracht werden soll. In der Familie werden Geschlechterverhältnisse durch zwischenmenschliche Interaktionen erlernt, d.h. Kinder lernen durch das Beobachten, z.B. wie ihre Eltern sich ausdrücken, verhalten und miteinander umgehen, sowie mit anderen Mitgliedern der Gesellschaft, u.a. Nonkonformisten, oder wie sie sich die Haushaltsaufgaben teilen (geschlechtsneutral oder geschlechtsspezifisch), wie sie mit Geschlechterstereotypen umgehen und Geschlechterrollen verstehen, etc.

Realität sieht aber etwas anders aus, wenn Kriminalitätsstatistiken in Betracht gezogen werden.

Eine von drei Frauen in Europa hat in ihrem Leben schon mindestens einmal Gewalt erfahren, auch in Österreich. Die Täter sind meist männliche Familienmitglieder, der Tatort das Zuhause. Dazu gehören körperliche und psychische Gewalt, sexuelle Übergriffe und Tötung.”

“Insgesamt hat die Zahl der Gewalttaten durch den Partner [in Deutschland] jedoch zugenommen – von 113.965 in 2017 auf 114.393 weibliche Opfer von häuslicher Gewalt im Jahr 2018 […]. Daneben gab es 26.000 Männer, die von ihren Frauen oder Ex-Partnerinnen bedroht, genötigt oder verletzt wurden.”

“Ebenso wurden 2018 18.526 Opfer familiärer Gewalt von den Gewaltschutzzentren und Interventionsstellen betreut. 84% der unterstützten KlientInnen waren Frauen und Mädchen, 91% der Gefährder waren männlich”

Das sind nicht einfach tragische Zahlen. Das sind Zahlen, die viel über Geschlechterordnung in unserer Gesellschaft vermitteln (zu bedenken ist, dass die Zahlen nur den sichtbaren Teil des Eisbergs “Häuslicher Gewalt” zeigen und zwar in demokratischen und wohlhabenden EU-Ländern wie Deutschland und Österreich).

Wie bereits gesagt, Schule ist ein wichtiger Teil der Gesellschaft, wo das “Spiel der Geschlechter” gleichermaßen stattfindet und zwar nach den Mustern, die Kinder in ihren Familien (unbewusst) erlernen. Das heißt, es soll nicht davon ausgegangen werden (wie es oft der Fall ist), dass primär durch die elterliche Erziehung das Verständnis für die Gleichstellung von Frauen und Männern und das Reduzieren von Geschlechterstereotypen stattfindet. Es soll davon ausgegangen werden, dass die Schule der einzige Sozialisationsort für viele Kinder sein könnte, wo das Gefühl für Geschlechtergleichheit erzeugt werden kann und zwar durch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema. Das heißt, alle Lehrkräfte (fachunabhängig) sollen im Stande sein das Thematisieren von Geschlecht kompetent anhand der Kenntnisse der Gender Studies durchzuführen, und nicht „auf der Basis des Alltagsverständnisses, […] die vorhandenen Geschlechterverhältnisse [nicht nur (re-)produzieren], sondern [durch geschlechterdifferenzierendes Handeln, häufig unbewusstes, verstärken] (Bartsch/Wedl, S.12).

„Eine Thematisierung von Geschlecht in der Schule ist unerlässlich,“ postulieren Bartsch und Wedl, Herausgeberinnen von Teaching Gender, und nennen drei Hauptgründe: „(1) weil [Geschlecht] eine wirkmächtige (unbewusste) Konstruktionsweise ist, (2) aufgrund seiner Funktion als gesellschaftlich wirksame soziale Ungleichheitskategorie, (3) aufgrund der subjektiven Relevanz von Geschlecht für SchülerInnen und seiner Funktion als Identifizierungskategorie.“ Sie warnen aber, dass „nicht jede Thematisierung zum Abbau von Geschlechterstereotypen und normierenden Geschlechterzuweisungen [die Kinder in der Familie und Gesellschaft beobachten und unbewusst erlernen] beiträgt“ (Bartsch/Wedl, S.16).

Im Gegenteil: die Lehrkräfte, die sich nicht wissenschaftlich, reflektierend und kritisch mit der Problematik der Geschlechterdifferenzierung in der Schule auseinandersetzen, tragen zur „Dramatisierung der Differenz,“ d.h. Hervorhebung, in verschiedenen Unterrichtspraktiken alltäglich bei, „z.B.

  • die Ansprache als StellvertreterIn eines Geschlechts im Sinne einer Platzanweisung (»du als Mädchen/Junge, …«),
  • die Homogenisierung von Geschlechtergruppen (die Mädchen und die Jungen),
  • die Gruppen(ein)teilungen anhand des Geschlechts bzw. die explizite geschlechterhomogene Gruppenarbeit in Form von Jungen- bzw. Mädchenarbeit
  • Lob für geschlechtsadäquates Verhalten,
  • die Abfrage von Stereotypen, ohne diese kritisch aufzulösen,
  • ein Protektionismus für Mädchen, gekoppelt mit einem verallgemeinerten Verdacht auf Machtpositionen auf Seiten der Jungen,
  • geschlechtliche Zuweisungen von Verhalten, Kompetenzen, Eigenschaften oder
    Aktivitäten, und viel mehr“ (Bartsch/Wedl, S.17).

Das sind Beispiele, die aus mehreren empirischen Studien hervorgehen, u.a. aus Studien von Budde/Blasse 2014, Faulstich-Wieland 2005, Thiessen/Tremel.

Trotz der Gefahr der Dramatisierung sind Wissenschaftler zur Erkenntnis gekommen, dass es Situationen gibt, wo sie äußerst sinnvoll ist, z.B.:

  • „wenn Geschlechterbilder Barrieren für die Entwicklung individueller Vielfalt bilden,
  • wenn es zu Diskriminierung von Teilnehmenden bzw. Menschen aus deren Umfeld kommt, die sich nicht geschlechternormenkonform verhalten,
  • wenn ich [als Lehrkraft] Teilnehmenden Wissen zugänglich machen möchte, mit dem sie eigene Probleme oder auch Privilegien in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext stellen und damit auch politisiert bearbeiten können, anstatt alles individualisiert auf eigenes Versagen bzw. eigene Talentiertheit zu schieben oder das Erleben zu naturalisieren,
  • wenn ich Teilnehmende dazu befähigen möchte, eigene diskriminierende bzw. gewalttätige Verhaltensweisen oder die Verinnerlichung selbstschädigender Normen zu erkennen und abzubauen bzw. Wehrhaftigkeit gegenüber solchen zu entwickeln.“ (Bartsch/Wedl, S.19).

Jedoch kann, wie bereits erwähnt, die kompetente Thematisierung von Geschlecht nicht auf Basis des Alltagswissens von Lehrkräften passieren, sondern sie erfordert „eine große Flexibilität und Gender-Kompetenz,“ die auf den Erkenntnissen der Gender Studies aufgebaut werden soll (Bartsch/Wedl, S.20).

Quellen:

Bartsch, Annette/Wedl, Juliette (2015) Zum Reflektierten Umgang mit Geschlecht im Schulunterricht und in der Lehramtsausbildung, in: Bartsch, Annette/Wedl, Juliette (Hrsg.) Teaching Gender? Transkript Verlag: Bielefeld, 9-31.

 

Wie wir alle wissen durften Mädchen und Jungen nicht immer an unseren Schulen gemeinsam unterrichtet werden. Wenige wissen aber, dass erst in den 1960er Jahren Koedukation konsequent in Europa durchgesetzt wurde (obwohl erste Versuche bereits nach dem 1. Weltkrieg stattgefunden haben). Um gemischte Klassen gesetzlich einzuführen, brauchte man jedoch konkrete theoretische Grundlagen, und diese stellte die Gendertheorie bereit (welche durch die 1. Welle der Frauenbewegung auf fruchtbaren Boden fiel).

Die Geschlechterforschung sieht Geschlecht als eine soziale Konstruktion: „als eine Form der Einteilung von Menschen […] einerseits und als eine Inszenierung/Darstellung durch Menschen andererseits,“ Faulstich-Wieland zufolge (S. 17). Das heißt, dass jeder Mensch, bewusst und unbewusst, an der Bildung des sozialen Geschlechts unaufhörlich beteiligt ist. Dieser Vorgang wird in der Gendertheorie durch das Konzept ‚doing gender von C. West und D. Zimmermann erklärt, welcher auch als Dramatisierung von Geschlecht bezeichnet wird.

Das zweite relevante Konzept des ‚undoing gender von S. Hirschauer, oder die deutsche Entsprechung der Entdramatisierung von Geschlecht von E. Goffman, soll dem obengenannten entgegenwirken.

Warum?

Weil die Dramatisierung von Geschlecht auf Geschlechterstereotypen basiert, die im Laufe unserer gesellschaftlichen Entwicklung entstanden sind und noch immer einen großen Einfluss auf uns alle haben. Durch Entdramatisierung, d.h. durch die bewusste Neutralisierung der Geschlechterdifferenzen werden Geschlechterstereotypen entschärft.

Faulstich-Wieland fasst folgendermaßen zusammen: „Mit Dramatisierung machen wir gezielt und zentral auf Geschlecht aufmerksam, mit Entdramatisierung gehen wir auf andere Kategorien oder auf die Individuen ein“ (S.18).

Das heißt, sollte man sich entscheiden eine Klasse, oder gar das ganze Schulwesen wieder nach Geschlechtern zu trennen, dann nicht mit der Begründung „Jungen sind in der Regel unruhiger, gewaltbereiter und damit problematischer!“ oder „Jungen sind in der Regel sprachlich unbegabter und lesen weniger!“ oder „Jungen sind PC-orientiert, Mädchen sind sprach-/buchorientiert!“ oder „Mädchen sind stiller und zurückhaltender und erreichen nicht die Beachtung und beruflichen Ziele, die sie aufgrund ihrer Leistungsfähigkeit erreichen können!“ (wie das Berufskolleg Südstadt mit Stolz in ihrem Gender Mainstreaming Programm präsentiert!).

Aber leider ist das Bildungssystem keine Ausnahme, auch die Lehrkräfte werden von Geschlechtsstereotypen beeinflusst.

So führten die Ergebnisse der PISA-2000 zu einer erneuten Koedukationsdebatte, die bereits in den 1980er Jahren von Lehrerinnen-Vertreterinnen der 2. Welle der Frauenbewegung initiiert wurde. Was mit der Absicht zur Beseitigung von subtilen Benachteiligungen von Mädchen im Unterricht begann, entwickelte sich letztendlich gleichermaßen auch für Jungen (Faulstich-Wieland, S.16).

Zunächst wurden schlechte PISA-Ergebnisse von Jungen in Lesekompetenz auf ihre Benachteiligungen im Unterricht zurückgeführt. Auch geringe Leistung und Motivation von Mädchen in MINT-Fächern wurden mit dem gleichen Grund erklärt.

Dazu bestätigen einige Studien (z.B. „Single-Sex Education Pilot Project,“ Australia,1993-94), die sich auf Beobachtungen von geschlechtshomogenen Klassengruppen und Rückmeldungen von beteiligten SchülerInnen und LehrerInnen beziehen, dass die Geschlechtertrennung sichtbare Vorteile für beide Geschlechter aufweist (Faulstich-Wieland, S.19).

So kam es zur Diskussion über eine erneute Trennung des Schulwesens, jedoch nur in Hinsicht auf das männliche und weibliche Geschlecht. Nun stellt sich die Frage, ob die Einführung von Monoedukation ein Schritt nach vorne und nicht zurück ist.

Laut Faulstich-Wieland würde eine Einführung von Monoedukation die Dramatisierung der Geschlechter verstärken, da sie die Geschlechterdifferenzen nicht neutralisieren, sondern im Gegenteil aktualisieren, bzw. betonen würde (S.18). Meiner Meinung nach ist das „Gender Mainstreaming“ Programm des Berufskollegs Südstadt ein hervorragendes Beispiel dafür.

Monoedukation könnte wohl eine Lösung für einige „Probleme“ im schulischen Bereich sein. Wie bereits gesagt, bestätigen dies einige Studien und schulische Experimente in MINT-Fächern. Jedoch wird sie allein nie im Stande sein Geschlechterstereotypen, welche Lehrkräfte täglich produzieren, reproduzieren und an ihre SchülerInnen weiterleiten, zu neutralisieren.

Faulstich-Wieland bietet auch einige Bespiele der Geschlechterdramatisierung in homogenen Gruppen zur Analyse an, die sehr gut verdeutlichen, dass die Veränderungen bei den Lehrkräften beginnen sollen. Es liegt ja an ihnen, beide Geschlechter gerecht zu unterrichten, anstatt das störende Verhalten von Jungen als „normal“ zu bezeichnen und die Risikobereitschaft von Mädchen im Werkunterricht etwas Schwieriges auszuprobieren, zu missachten.

Monoedukation wird keine Lösung für Geschlechtergerechtigkeit sein, solange wir, die Lehrkräfte, in „typisch Buben-“ und „typisch Mädchen-“ Verhaltensmustern denken und agieren.

Quellen:

Faulstich-Wieland, Hannelore (2010) Mädchen und Jungen im Unterricht, in: Buholzer, Alois /Kummer Wyss, Annemarie (Hrsg.) Alle gleich – alle unterschiedlich! Zum Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht. Zug: Klett, 16-26.

Jaschke, Bruno (2019) Lesen … ich? Nein, danke! Burschen sind im Lesen schwach. Weil ihnen Vorbilder fehlen, sagen Experten, HEUREKA 19 [WWW Dokument] <https://www.falter.at/heureka/20190522/lesen-ich-nein-danke/ea7fb656c8> [31.03.2020].

Jonczyk-Buch, Kerstin (2013) Geschlechterdifferenzierter Unterricht – Erfahrungsbericht aus dem MINT-Projekt der Veit-Stoß-Realschule Nürnberg, in: Stadler-Altmann U. (Hrsg.) Genderkompetenz in pädagogischer Interaktion. Opladen; Berlin; Toronto: Verlag Barbara Budrich, 171-181.

Rademacher, Christina (2019) Sind Mädchen zu dumm für Mathe? Der EU-weit größte Unterschied zwischen Burschen und Mädchen in Mathe besteht in Österreich, HEUREKA 19 [WWW Dokument] <https://www.falter.at/heureka/20190522/sind-madchen-zu-dumm-fur-mathe/be9d6e0ea9> [31.03.2020].